Giorgio Vasari (1511–1575) publizierte 1550 das Werk Le vite de’ piu eccellenti pittori, scultori, e architettori. Das Opus Magnum wurde zum Initialwerk und Bezugspunkt der europäischen Kunstgeschichtsschreibung. Künstler, die von Vasari erwähnt wurden, konnten mit einer höheren Wertschätzung ihrer Werke rechnen. Vasari setzte Massstäbe, gerade auch im bewussten Ausklammern von Künstlerinnen.
In Anlehnung an Vasari veröffentlichte Joachim von Sandrart (1606–1688) zwischen 1675 und 1679 Die Teutsche Academie der Edlen Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste. Das erste deutschsprachige Kompendium machte biografisches, theoretisches und praktisches Wissen zu den Künsten verfügbar. Es wurde zum Leitfaden für die erste deutsche Kunstakademie, die 1662 in Nürnberg von Joachims Neffen Jacob von Sandrart (1630–1708) gegründet wurde. Wie Vasari stellte Joachim von Sandrart eine verschwindend kleine Zahl von Künstlerinnen vor.
Erst im 19. Jahrhundert entstanden Publikationen, die eine grosse Zahl kunstschaffender Frauen zusammentrugen und ihre Werke in einen historischen Kontext setzten.
Properzia de' Rossi (um 1490–1530)
Giorgio Vasari
Titelbild der Vita von Properzia de Rossi, Holzschnitt, in: Le vite de’ piu eccellenti pittori, scultori, e architettori, Florenz 1568, ZBZ
Die Bildhauerin Properzia de' Rossi war die einzige Frau, der Vasari als «Naturwunder» einen eigenen Eintrag in seinen Viten widmete. De' Rossi erlangte Bekanntheit durch Miniaturreliefs, die sie aus Kernen von Steinobst fertigte. Diese Arbeiten fasste sie in filigrane Silberschmiedekunst. Ein öffentlicher Auftrag für die Fassade von San Petronio in Bologna folgte.
In diesem Zusammenhang entstand das Marmorrelief Die Versuchung Josefs durch die Frau des Potiphar. Die gekonnte Umsetzung erklärte Vasari mit de' Rossis unerwiderter Liebe zu einem Mann. Brennende Leidenschaft sei kein legitimer Beweggrund für Kunst und entbehre der kreativen Inspiration, so Vasari. Für ihn war es nur folgerichtig, dass die Bildhauerin sich später dem reproduktiven Kupferstich verschrieb. Die kreative Gabe der inventio war seiner Auffassung nach den Männern vorbehalten.
In seiner zweiten Ausgabe (1568) erwähnte Vasari zwar drei weitere Frauen. Die bedeutenden Malerinnen Plautilla Nelli (1523–1588), Lucrezia Quistelli della Mirandula (1541–1594) und Sofonisba Anguissola (1532–1625) erhielten jedoch keinen eignen Eintrag. Demgegenüber standen rund 200 Erwähnungen von männlichen Kollegen, wovon 161 in einer eigenen Vita gewürdigt wurden.
Susanna Maria von Sandrart (1658–1716)
Susanna Maria von Sandrart
Brunnen auf dem Platz der Heiligen Dreieinigkeit (Piazza di Spagna), Radierung, in: Joachim von Sandrart, Die Teutsche Academie der Edlen Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste, Nürnberg 1675, ZBZ
Joachim von Sandrart war von der Begabung seiner 20-jährigen Grossnichte Susanna Maria so überzeugt, dass er ihr einen Abschnitt in seiner Teutschen Academie widmete. Nach ihren eigenen Angaben stand die Haushaltsführung bei ihrer Erziehung im Vordergrund. Ihr Vater Jacob von Sandrart erkannte das künstlerische Potential seiner Tochter und förderte sie in der Radierung. Ihre Arbeiten vertrieb er in seiner Kunsthandlung.
Für Susanna von Sandrart bedeutete die erste Eheschliessung ein vorläufiges Aus in der Kunstausübung. Nach dem Tod ihres ersten Mannes verdiente sich Susanna von Sandrart im Verlag der Familie den Lebensunterhalt selbst. Nach siebenjähriger Witwenschaft heiratete sie mit Zögern erneut. Als Stiefmutter von sechs unverheirateten Töchtern geriet ihre Produktivität fast völlig zum Erliegen. Kenntnis von ihrem Œuvre haben wir nur deshalb, weil Susanna von Sandrart ihre Zeichnungen und Kupferstiche in einem Folioband zusammentrug und ihrem Ehemann, dem Verleger, Wolfgang Moritz Endter (1653–1723) widmete. Dieser vermachte es zum Gedenken an seine Frau der Stadtbibliothek Nürnberg.
Unter dessen habe ich meistentheils alles von meiner Handt verfertigte in gegenwärtiges Buch zusammen gerichtet, zu dem Endt, damit man sehen kan, womit ich nicht allein meinen Jungfräulichen als in sonderheit meinen Siebenjährigen Wittibstand [Wittwenstand] zu gebracht.
Susanna Maria von Sandrart, Vorrede aus ihrem Folioband, Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg
Frauen in der Kunstgeschichte
Das 19. Jahrhundert
1858 erschien Frauen in der Kunstgeschichte von Ernst Guhl, 1859 legte Elizabeth Fries Ellet ihre Untersuchung Women Artists in all Ages and Countries vor, und 1876 publizierte Ellen Creathorne Clayton English Female Artists.
Wilhelm Lübke
Frauen in der Kunstgeschichte, Vortrag, gehalten im Grossrathssaale zu Zürich, am 16. Januar 1862
Claytons Publikation war der erste Versuch, die Künstlerinnen Englands breit abgestützt vorzustellen. Sie verstand ihr Buch als «A Roll Call of Honourable Names». Kritik übte sie am Ausschluss der Frauen aus Kunstinstitutionen und von möglichen Ausbildungen. Guhl war der Sache der Künstlerinnen zwar ernsthaft verpflichtet, trotzdem kolportierte er eine degradierende Sicht auf deren schöpferische Kraft. Frauen hätten sich bei der Etablierung neuer Kunstrichtungen nicht hervorgetan, denn sie würden Bestehendes weiterbilden, nicht aber Neuschöpfungen hervorbringen.
Wilhelm Lübke, Prof. am Eidgenössischen Polytechnikum in Zürich, kritisierte in einem Vortrag Guhls Publikation. Seiner Meinung nach liesse sich über die «kunstgeweihten Damen nicht gar viel sagen» und wies ihnen einen Platz im Haushalt zu. Angelika Kauffmann und Louise-Elisabeth Vigée-Le Brun zählten zwar, so Lübke, zu den besten ihrer Zeit. Gleichzeitig ordnete er die ganze Epoche als eine der schwächsten der Kunstgeschichte ein. Mit der Festschreibung des Kunstkanons blieben Künstlerinnen wie Kauffmann und Vigée-Le Brun lange Zeit als nachrangig in der Geschichte gefangen.
Um als Künstlerin erfolgreich zu sein, kämpften Frauen nicht nur mit dem Rollenverständnis in der Gesellschaft, sondern auch mit Normvorstellungen in der Kunst. Künstlerinnen wurden auf nachahmende Kunstgattungen, wie auf das Porträt oder das Stillleben, festgelegt. Den höchsten Rang in der Kunst nahm das Historienbild ein. Voraussetzung für die Bewältigung dieser Aufgabe war die Erfindungsgabe, die inventio, die spätestens seit Vasari den Männern zugeschrieben wurde.
Im kulturellen Gedächtnis sind Künstlerinnen wie Angelika Kauffmann, Élisabeth-Louise Vigée-Le Brun oder Marie Ellenrieder verankert. Sie unterliefen zum Teil die Normvorstellungen der Männer. Garanten ihres Erfolgs waren die Inszenierung und Vermarktung der eigenen Person, ein weit gespanntes Netzwerk, eine einflussreiche Patronage sowie die Lancierung neuer Bildideen.
Angelika Kauffmann (1741–1807)
Francesco Bartolozzi nach Joshua Reynolds
Porträt von Angelika Kauffmann, 1780, Punktiermanier, ZBZ
Joshua Reynolds
Porträt von Angelika Kauffmann, 1780, Öl auf Leinwand, 1777/1778 (?), Privatbesitz (nicht in der Ausstellung)
Angelika Kauffmann
Selbstbildnis, um 1784, Öl auf Leinwand, Bündner Kunstmuseum Chur, Depositum der Gottfried Keller-Stiftung, Bundesamt für Kultur, Bern (nicht in der Ausstellung)
Die in Chur geborene Angelika Kauffmann startete in Rom ihre Karriere mit dem aufsehenerregenden Porträt des berühmten Gelehrten Johann Joachim Winckelmann (1717–1768), Aufseher der Altertümer des Vatikans. 1766 ging Kauffmann nach London und suchte zielstrebig Kontakt zu jungen modernen Frauen der gehobenen Gesellschaft, die sie porträtierte. Es folgten bedeutende Aufträge aus dem europäischen Hochadel. König George III. berief Kauffmann 1768 als Gründungsmitglied in die Royal Academy of Arts. Sie und Mary Moser (1744–1819) waren die beiden einzigen Frauen in einem Gremium von 34 Männern. Unter-stützung erhielt Kauffmann von Sir Joshua Reynolds (1723–1792), dem Präsidenten der Londoner Royal Academy.
Bereits kurz nach ihrer Ankunft in London verabredeten sich Kauffmann und Reynolds, um sich gegenseitig zu porträtieren. Reynolds Bildnis von Kauffmann wurde 1780 von Francesco Bartolozzi in Punktiermanier angefertigt und fand grosse Verbreitung. Für ihr Selbstbildnis entwickelte Kauffmann das Bildformular Reynolds weiter, indem sie die Büste der Minerva (römische Göttin der Weisheit und des Krieges) in das Bild integrierte.
Als am 7. November 1807 die Glocken Roms zu läuten begannen, setzte sich ein Trauerzug, der eines Staatsmannes würdig gewesen wäre, Richtung Sant'Andrea delle Fratte in Bewegung. Im Sarg, getragen von Vertretern verschiedener Kunstakademien, bekannten Malern, Architekten und Schriftstellern, lag die berühmteste Künstlerin ihrer Zeit [...]. «Unter einem unermesslichen Zulauf des Volkes» erwies man der «vielleicht kultiviertesten Frau Europas» (Johann Gottfried Herder) die letzte Ehre in einem «Leichenbegängnis, wie es zuletzt Raffael» erhalten hatte.
Bettina Baumgärtel, Verrückt nach Angelika Kauffmann, Ausst. Düsseldorf / London, München 2020
Louise-Élisabeth Vigée-Le Brun
Selbstporträt mit Strohhut, 1782, Öl auf Leinwand, National Gallery, London (nicht in der Ausstellung)
Peter Paul Rubens
Porträt der Susanna von Lunden, um 1622, Öl auf Holz, National Gallery, London (nicht in der Ausstellung)
Johann Gotthard Müller nach Louise-Élisabeth Vigée-Le Brun
Selbstporträt der Künstlerin, 1785, Kupferstich und Radierung, ZBZ
Wie Kauffmann galt auch Élisabeth-Louise Vigée-Le Brun als zeichnerisches Wunderkind. Durch Kopieren bildete sie sich autodidaktisch aus, erhielt aber auch privat Unterricht bei Gabriel Briard, einem Mitglied der Pariser Académie Royale de Peinture et de Sculpture.
Mit nur 23 Jahren erhielt Vigée-Le Brun die Gelegenheit, die französische Königin Marie-Antoinette zu porträtieren. Weitere prestigeträchtige Aufträge folgten. Gegen Widerstände einzelner Mitglieder wurde sie 1783 in die Académie aufgenommen, unter anderem dank der Unterstützung des Hofmalers Claude Joseph Vernet (1714–1789) und jener von Louis XVI. und Marie-Antoinette. Im gleichen Jahr konnte sie ihr Selbstporträt mit Strohhut im Salon der Académie ausstellen.
Beeindruckt von Peter Paul Rubens' (1577–1640) Por-trät der Susanna van Lunden, übernahm sie die Licht-effekte von Verschattung und indirekter Beleuchtung. Die kalkulierte Inszenierung zeigt sie einerseits als handelnde Künstlerin mit Pinsel und Palette, anderer-seits als begehrenswertes Objekt der Betrachtung.
Die Französische Revolution von 1789 zwang Vigée-Le Brun in die Emigration. In St. Petersburg knüpfte die Künstlerin durch die Patronage Katharinas II. an ihre Erfolge in Frankreich an und erzielte Höchstpreise für ihre Porträts.
In Antwerpen fand ich bei einem Privatmann das berühmte ‹Strohhutbild› [...]. Das wundervolle Bild stellt eine der Frauen von Rubens dar; seine grosse Wirkung beruht auf den beiden verschiedenen Lichteffekten, welche das einfache Tageslicht und der helle Sonnenschein geben [...]. Das Gemälde entzückte mich und regte mich so an, dass ich ein Selbstportrait in Brüssel anfertigte, an dem ich dieselbe Wirkung hervorzubringen versuchte. […] Bald nach meiner Rückkehr aus Flandern im Jahre 1783 bestimmten dies Portrait und einige andere meiner Arbeiten Joseph Vernet dazu, mich als Mitglied der königlichen Malakademie in Vorschlag zu bringen.
Élisabeth-Louise Vigée-Le Brun, Erinnerungen der Malerin (übersetzt von Martha Behrend)
Marie Ellenrieder
Porträt von Elisabeth Meyer-Ulrich, 1818, Öl auf Leinwand, ZBZ
Marie Ellenrieder war die Enkelin des fürstbischöflichen Hofmalers in Konstanz, Franz Ludwig Hermann (1723–1791). Sie erhielt für ihre Ausbildung Protektion durch den Konstanzer Generalvikar Ignaz Heinrich Freiherr von Wessenberg. 1813 konnte die 22-jährige Ellenrieder als erste Frau die Münchner Kunstakademie besuchen. Ab 1818 wurde sie zu einer gefragten Porträtistin des Adels und Bürgertums in Südwestdeutschland und der Schweiz. In dieser Zeit entstand das Jugendbildnis von Elisabeth Meyer-Ulrich, der späteren Mutter des Schriftstellers Conrad Ferdinand Meyer. Bei ihren Bildnissen verstand es Ellenrieder, den repräsentativen Aspekt der Porträtkunst mit dem individuellen Charakter der jeweiligen Persönlichkeit zu verbinden.
Die gläubige Malerin hatte während ihres Romaufenthaltes 1822 Kontakt mit der religiös ausgerichteten Künstlergruppe der Nazarener. In der Folge stufte sie die Porträtkunst als «eitel» ein und widmete sich sakralen Themen. Mit grossformatigen Altarbildern stiess sie in einen mehrheitlich von Männern domi-nierten Bereich vor.
Als erste Frau erhielt sie vom badischen Kunstverein die Goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft. Von 1829 berief Ludwig I. von Baden Ellenrieder zur Hofmalerin.
Marie Ellenrieder
Heilige mit aufgeschlagenem Buch, 1818, Mischtechnik, aus dem Nachlass von Clementine Stockar-Escher, ZBZ
Ein umfangreiches überliefertes Œuvre und die Berücksichtigung in der Geschichtsschreibung waren wichtige Faktoren, um über den Tod hinaus bekannt zu bleiben. Viele Künstlerinnen wurden jedoch schon zu Lebzeiten an den Rand gedrängt und in der posthumen Forschung vernachlässigt. Überdurchschnittlich viele Werke von Künstlerinnen wurden nach deren Tod marginalisiert und gingen verloren.
Johann Caspar Füssli d. Ä. (1706–1782), Verfasser der ersten Schweizer Kunstgeschichte, thematisierte den Verlust an Wissen und Werken am Beispiel der Zürcher Künstlerin Anna Waser.
Anna Waser
Flora, Kopie nach Josef Werner, 1697, Gouache auf Kupferplatte, ZBZ (nicht in der Ausstellung)
Anna Waser
Flora, zwischen 1690 und 1700, Gouache, ZBZ
Mit nur 13 Jahren wurde Waser in die Berner Malakademie von Joseph Werner (1637–1710), einem international angesehenen Miniaturmaler, aufgenommen. Ihre Porträts machten sie ab 1695 über die Grenzen der Schweiz hinaus bekannt. 1700 wurde sie von Wilhelm Moritz von Solms-Braunfels als Hofmalerin nach Hessen berufen. Bereits nach zwei Jahren musste sie jedoch die Stellung aus familiären Gründen wieder aufgeben. Nach ihrem frühen Tod ging sie für lange Zeit in Vergessenheit. Heute sind nur rund 25 ihrer Werke erhalten.
Füssli stellte Anna Waser in seiner Geschichte der besten Künstler in der Schweitz in eine Reihe international anerkannter Künstlerinnen wie Sofonisba Anguissola (1532–1625), Tintorettos Tochter Maria Robusti (um 1554–1590), Rosalba Carriera (1675–1757), Rahel Ruysch (1664–1750) oder Angelika Kauffmann (1741–1807). Der geplante Eintrag Wasers in die Teutsche Academie der edlen Bau-, Bild- und Malereikünste, wurde durch den Tod von Jacob von Sandrart 1708 verhindert. Die Ursache für die fehlende Kenntnis ihres Œuvres ortete Füssli in der Abwanderung ihrer besten Werke ins Ausland.
Wir müssen es recht sehr bedauern, daß ihre besten Stücke nach England, Teutsch= und Holland gekommen sind. Wir besitzen nichts von ihr als Anfänge in ihrer Kunst, oder höchstens in Eile verfertigte Stücke. [...] Da Jacob von Sandrart im Sinn hatte, der berühmtesten Mahler Geschichte, die Joachim von Sandrart, sein Oheim, in zween Folio=Bänden herausgegeben hatte, fortzusetzen, verlangte er ihr Bildniß und ihre Lebens=Geschichte von ihr, um solche miteinzuschließen. Wäre dieses geschehen, so könnten wir mehr Zuverläßiges von ihren Arbeiten wißen.
Johann Caspar Füssli, Geschichte der besten Künstler in der Schweitz, Zürich 1770, Bd. 3
Johann Rudolf Füssli
Porträt von Anna Waser, um 1757, Radierung, in: Johann Caspar Füssli, Geschichte der besten Künstler in der Schweitz, Bd. 3, 1770
Anna Barbara Bansi (1777–1863)
Jean-Auguste-Dominique Ingres
Porträt von Barbara Bansi, zwischen 1797 und 1800, Zeichnung, schwarze Kreide und Weisshöhungen, Musée du Louvre, Département des Arts graphiques, Paris (nicht in der Ausstellung)
Barbara Bansi
Römische Prozession, zwischen 1802 und 1814, Aquarell, ZBZ
Die Künstlerin Anna Barbara Bansi entstammte als Tochter eines reformierten Predigers aus Fläsch (GR) einfachen Verhältnissen. Sie wurde von dem vermögenden Zürcher Ehepaar Anna Magdalena und Johann Caspar Schweizer-Hess adoptiert und wuchs ab 1786 in Paris auf. Ihre künstlerische Ausbildung erhielt sie unter anderem von François Gérard (1770–1837) und von Joseph-Benoît Suvée (1743–1807). In Paris lernte sie auch Jean-Auguste-Dominique Ingres (1780–1867) kennen, der später weltberühmt werden sollte.
Ab 1802 vervollständigte Bansi ihre Ausbildung in Rom, wo Suvée seit 1792 erster Direktor der Académie Française à Rome war. Bansis Netzwerk verhalf ihr zu Kontakten mit dem Hochadel. So begleitete sie Letizia Bonaparte, die Mutter Napoleons, auf einer Reise nach Süditalien. Ihre Eindrücke des Vesuv-Ausbruchs (1804) und der Besuch der Insel Ischia von 1805 verarbeitete sie in den Miszellen für die neueste Weltkunde (erschienen 1811). Während ihres Italienaufenthaltes entstand die Zeichnung Römische Prozession. Obwohl zum Katholizismus konvertiert, lehnte sie die Theatralik von Bussprozessionen ab. Die Zeichnung stellt ihr Talent für die Karikatur unter Beweis.
Wir befinden uns in Paris. Ende Oktober 1797. Das Mädchen ist neunzehn Jahre alt, der Junge siebzehn. Sie unterhalten sich auf Französisch, obwohl die Muttersprache des Mädchens Schweizerdeutsch ist. Sie lebt mit ihren Zürcher Pflegeeltern bereits seit elf Jahren in Paris und lernt dort Malerei. Noch hat sie ihre Bilder nicht ausgestellt. 1797 fühlt sie sich schon bereit, ihr Talent wägen zu lassen, doch entfällt in jenem Jahr der Salon. Erst im Jahr darauf, 1798, hat sie die Gelegenheit, sich als Malerin vorzustellen. Unter den 508 ausgestellten Werken befindet sich auch ein Gemälde von ihr. […] Noch ahnen beide nicht, dass einst eine Zeit kommen wird, da sich des Mädchens niemand mehr erinnern wird, der Junge hingegen ins Pantheon der Unsterblichen aufsteigen wird.
Betsy Meyer
Porträt von Anna Susanna Fries, 1877, Kreidezeichnung, weiss gehöht, ZBZ
Betsy Meyer ist als Schwester des Dichters Conrad Ferdinand Meyer (1825–1898) in Erinnerung geblieben. Ihr zeichnerisches Talent hingegen ist kaum bekannt. Betsy Meyers Berufswunsch galt der Kunst, mit der sie sich ihr «Brötlein» verdienen wollte. Ab 1853 liess sie sich in Genf in Pastellmalerei unterrichten. Gefördert wurde sie von Conrad Zeller (1807–1856) und Melchior Paul Deschwanden (1811–1881).
Durch den Freitod der Mutter Elisabeth Meyer-Ulrich (1802–1856) verstärkte sich die emotionale Bindung der beiden Geschwister. In der Folge übernahm Betsy Meyer die Führung des gemeinsamen Haushalts und geriet in die Rolle des «Sekretärchens». Der selbst gewählte Diminutiv kaschierte die Bedeutung ihrer Arbeit als Literaturagentin, Lektorin und bisweilen als Mitautorin. Die Eheschliessung des Bruders mit Luise Ziegler (1837–1915) 1875 war eine grosse Zäsur in ihrem Leben. Kurz danach reiste Betsy Meyer nach Florenz zu ihrer Jugendfreundin Anna Susanna Fries (1827–1901), die dort eine Malschule für Frauen aufgebaut hatte. Während eines weiteren Aufenthalts in Florenz 1876/1877 entstand das eindrückliche Porträt ihrer Lehrerin.
Von Anfang an fühlte ich mit Ihnen, welch glückliche, aber auch welche ernste Stunden die Vermählung Ihres Herrn Bruders Ihnen bringen würde. Bis anhin hatten Sie in aufopferndster Liebe ihm Ihre Zeit gewidmet; […] Wenn auch selten Nachrichten aus Ajaccio zu Ihnen gelangen, so dürfen Sie doch gewiss sein, dass das Herz Ihres Bruders Ihrer oft in dankbarer Treue gedenkt […]. Am Sylvester erhielt mein lieber Mann eine Gratulationskarte aus Ajaccio, […] die eine positive Kunde enthielt, dass Nachrichten aus Zürich sehr gerne gesehen würden.
In der Künstlerinnenforschung wurde der Begriff Dilettantismus (lat. dilettare: erfreuen, liebhaben) zu einem Reizwort. Ursprünglich umfasste er eine auf Liebhaberei basierende Ausübung der Künste oder Wissenschaften. Die angeeigneten Fertigkeiten konnten dabei durchaus vollendet sein, dienten jedoch nicht dem Lebensunterhalt.
Allgemein war in bürgerlichen Kreisen die Erwerbstätigkeit von Frauen bis weit ins 19. Jahrhundert suspekt. Frauen mit dem Berufswunsch Malerin war der Zugang zu Kunstakademien zumeist verwehrt und damit auch der offizielle Status einer Künstlerin. Häufig bildeten sie sich in privaten Ateliers oder im Selbststudium aus. Mit dem Etikett «Dilettantin» wurden um 1900 professionelle Malerinnen oder Bildhauerinnen diskreditiert. Männliche Künstler und Kritiker verunglimpften sie als «Malweiber» und versuchten so die unerwünschte Konkurrenz vom Kunstmarkt fernzuhalten.
Antoinette Lisette Fäsi (?)
Ein mögliches (Selbst)Porträt, um 1800, Scherenschnitt, Sammlung Johann Caspar Lavater, Zürich
Antoinette Lisette Fäsi (?)
Lavater am Schreibpult, um 1790, Scherenschnitt, ZBZ
Der Scherenschnitt wurde dem Bereich des Kunsthandwerks zugeordnet und gehörte nicht dem Kanon der Bildenden Künste an. Ausgehend von Weimar, Dessau, Gotha und Berlin erreichte die Silhouettenkunst in den 1760er- bis 1780er-Jahren ihren Höhepunkt. In der Schweiz waren Silhouetten für Johann Caspar Lavaters (1741–1801) Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe von grosser Bedeutung. Für ihn waren sie unmittelbarer Ausdruck der Natur und dienten ihm der Erforschung menschlicher Wesensmerkmale.
Im Umfeld Lavaters bewegte sich Antoinette Lisette Fäsi (1730–1808). Von ihr sind heute sieben Werke bekannt. Drei ihrer Arbeiten signierte bzw. monogrammierte sie mit der Schere. Vier weitere werden aufgrund stilistischer Vergleiche ihrer Hand zugeschrieben. Zu ihrem Repertoire gehörten pastorale Idyllen, Kriegsszenen und Porträts von Lavater. Die Vorbereitungen zur Ausstellung förderten einen weiteren Scherenschnitt aus dem Nachlass Lavaters zu Tage. Er zeigt das Porträt einer sitzenden Frau in ganzer Figur. Sie ist dabei, die Silhouette Lavaters zu schneiden. Vermutlich tritt uns hier das Selbstbildnis der Künstlerin entgegen.
Die erfindungsreiche Scherenschneiderin, welche stolz als «Antoinette Lisette Fäsi» (fecit) signierte, war sich wohl bewusst, eine Künstlerin zu sein.
Bruno Weber, Verwandlung in Bilder, 2018
Antoinette Lisette Fäsi (?)
Bombardement von dem Schlössli ob Fluntern gegen die Stadt Zürich, nach 1802, Scherenschnitt, ZBZ (nicht in der Ausstellung)
Clementine Stockar-Escher
Nach dem Balle, 1856, Aquarell und Gouache, ZBZ
Franz Xaver Winterhalter
Kaiserin Elisabeth von Österreich, 1864, Öl auf Leinwand, Kunsthistorisches Museum, Wien (nicht in der Ausstellung)
Clementine Stockar-Escher (1816–1886) gehörte als Schwester des Politikers und Eisenbahnpioniers Alfred Escher zu einer der vermögendsten Familien in der Schweiz. Ihrem sozialen Status entsprechend war es ausgeschlossen, Werke zu veräussern. Unterricht erhielt sie privat und eignete sich darüber hinaus Fertigkeiten durch Kopieren Alter Meister an. Die Freundschaft ihres Ehemannes zu Franz Xaver Winterhalter (1805–1873), einem der renommiertesten Porträtkünstler des europäischen Hochadels, ermöglichte ihr bei Besuchen den künstlerischen Austausch.
Im genrehaften Porträt der Mathilde Baron mit dem Titel Nach dem Balle lenkt die diagonale Lichtführung unseren Blick auf den intimen Moment der Lektüre eines Briefes nach dem Ball. Die Einordnung ihrer Werke als reine Liebhaberei wäre verfehlt. Sie arbeitete täglich im eigenen Atelier. Selbstbewusst präsentierte sie ihre Werke an Turnusausstellungen des Schweizerischen Kunstvereins und an Ausstellungen der Künstlergesellschaft Zürich. Stockar-Escher hinterliess ein umfangreiches Œuvre von über 800 Porträts, Genreszenen, Stillleben und Landschaften.
Alles dieser Art aber überbietet Madame Stockar-Escher's Interieur eines mit Luxus möblirten Damenkabinet's, wo Bücher in Goldschnitt, kleine Gegenstände der Toilette und ein neugierig sich im Spiegel besehender Kanarienvogel mit einer herrlich gemalten grossen Glasvase ein Ensemble bilden, das bei aller Farbenpracht doch geschmackvoll zusammenstimmend als ein wahres Wunder von Colorit und Naturabspiegelung erscheint.
Werke schweizerischer Künstler zur Wiener Weltausstellung bestimmt, NZZ, Nr. 102, 25.2.1873
Clementine Stockar-Escher
Clematis, 1873, Aquarell, ZBZ
(nicht in der Ausstellung)
Clementine Stockar-Escher
Blattwerk von Wildem Wein, 1875, Aquarell, ZBZ
(nicht in der Ausstellung)
Clementine Stockar-Escher
Blattwerk einer Eiche, 1875, Aquarell, ZBZ
(nicht in der Ausstellung)
Clementine Stockar-Escher
Gloxinien, 1875, Aquarell, ZBZ
(nicht in der Ausstellung)
Clementine Stockar-Escher
Mein Ficus. Erste Arbeit nach m. Krankheit im Wohnzimmer gemalt, 1877, Aquarell, ZBZ
(nicht in der Ausstellung)
Clementine Stockar-Escher
Magnolia, 1878, Aquarell, ZBZ
(nicht in der Ausstellung)
Clementine Stockar-Escher
Wohlriechendes Geissblatt, 1884, Aquarell, ZBZ (nicht in der Ausstellung)
Hier hatte sie sich im rückwärtigen Gebäude ein Atelier eingerichtet, und die Strenge, mit der sie sich ihrer Kunst widmete, mag oft stark mit den Konventionen eines vornehmen Haushalts kontrastiert haben. […] Das wichtigste Arbeitsfeld der Malerin, die nie einen konsequenten künstlerischen Unterricht erhalten haben soll, aber von Franz Xaver Winterhalter gefördert wurde, sind die Blumenbilder und Stillleben.
Caroline Rahn
Ansicht der Mythen, mit Widmung an den Bräutigam Johann Rudolf Rahn, 8.9.1867, Aquarell, ZBZ
Wie für bürgerliche Kreise üblich, erhielt Caroline Rahn Unterricht an einer Privatschule. Ihre Eltern ermöglichten ihr in Zürich eine Zeichen- und Aquarellausbildung. Der Wunsch, in München die Kenntnisse zu vertiefen, scheiterte an gesellschaftlichen Normvorstellungen. Als Ehefrau Johann Rudolf Rahns (1841–1912), erster Professor für Kunstgeschichte an der Universität Zürich und Pionier der Denkmalpflege, ordnete die begabte Aquarellistin ihre Interessen der Karriere des Mannes unter. Nur wenige Aquarelle von ihr sind fassbar. Bei vielen handelt es sich um gemeinschaftliche Arbeiten, bei denen er die Vorzeichnung anlegte und sie die anspruchsvolle Technik des Aquarells ausführte. Johann Rudolf Rahn bezeichnete sich selbst als Dilettant. Er hinterliess über 3’500 zumeist signierte Zeichnungen, von denen er zahlreiche veröffentlichte. Die künstlerisch vollgültigen Aquarelle Caroline Rahns blieben hingegen auf den privaten Bereich beschränkt.
Meinen wissenschaftlichen Arbeiten wandte sie ein reges Interesse und durch ihre zeichnerische Begabung auch Hülfe zu. […] Die Anlagen dazu hatten sich früh gezeigt und die Eltern ihr Bestes getan, sie ausbilden zu lassen, zuerst durch Jakob Heinrich Reutlinger und später durch den Aquarellisten Jakob Suter. […] Die jugendliche Künstlerin hegte auch den Wunsch, es noch weiterzubringen und dazu schwebte ihr ein Aufenthalt in München vor. Allein die Anschauungen reichten damals noch nicht so weit; ein solches Unternehmen des Töchterchens erschien zu extravagant, […].
Im Bereich von Kunst und Wissenschaft waren Frauen aufgrund ihrer Ausbildung benachteiligt. Der Arzt und Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) problematisierte zu Beginn des 18. Jahrhunderts diesen Sachverhalt. In seiner in deutsch verfassten Physica, oder Naturwissenschaft (1701) verzichtete er auf Fachbegriffe, um die Inhalte niedrigschwellig zu vermitteln. Er richtete sich insbesondere an die «Frauen-Zimmer», die «bis dato von dieser Wissenschaft so vil als außgeschlossen [...]» waren.
In der Wochenschrift Discourse der Mahlern (1723) kritisierten Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und Johann Jakob Breitinger (1701–1776) in einem fiktiven von Frauen geführten Lehrgespräch deren Reduzierung auf «Geld zehlen / wäschen / flicken / bey ihnen [den Männern] schlaffen». In mehreren Diskursen propagierten sie die ebenbürtige geistige Kapazität von Frauen und Männern.
Maria Sibylla Merian (1647–1717) war drei Jahre alt, als ihr Vater Matthäus Merian d. Ä. (1593–1650), der berühmte Frankfurter Verleger, starb. Unterricht im Zeichen, Malen und Kupferstechen erhielt sie von ihrem Stiefvater Jacob Marell (1614–1681), der ihr die Tradition des Blumenstilllebens vermittelte. Bereits als 13-Jährige sammelte sie Insekten und dokumentierte deren Lebenszyklus.
Im Neuen Blumenbuch (1675–1680) publizierte Merian dekorative Motive als Zeichen- und Stickvorlagen. Im Raupenbuch (1679) verfolgte sie hingegen einen konsequent wissenschaftlichen Ansatz: Sie dokumentierte die Metamorphose von Motten und Schmetterlingen.
Mit 52 Jahren unternahm sie eine wissenschaftliche Expedition avant la lettre nach Surinam. Ihre systematische Untersuchung von exotischen Schmetterlingen der südamerikanischen Tropenwälder veröffentlichte Merian in dem zukunftsweisenden Werk Metamorphosis Insectorum Surinamensium (1705). Das repräsentative Folioformat verweist auf ihren Anspruch als eine anerkannte Naturforscherin.
Nach ihrem Tod folgten weitere Nachdrucke. Die französische Ausgabe von 1771 zeigt als Frontispiz die allegorisierende Darstellung Merians, die auf ihre Tätigkeit anspielt; der Kupferstecher Friedrich Ottens setzte ihr ein eindrückliches Denkmal.
Friedrich Ottens
Frontispiz, Kupferstich und Radierung, in: Maria Sibylla Merian, Histoire générale des insectes de Surinam et de toute l’Europe […], 3. Aufl., korr. und ergänzt von Buch'oz, Paris 1771, ZBZ
Mit diesen sorgfältigen, geduldigen Beobachtungen war sie die Erste, die die Wechselwirkungen zwischen Insekten derselben Art oder unterschiedlicher Taxa, sowie zwischen Insekten und ihren Wirtspflanzen festhielt. […] Als eine der ersten beschrieb sie die Interaktionen zwischen Arten, Nahrungsketten und den Kampf ums Überleben in der Natur, ebenso die Auswirkungen der Umwelt auf Entwicklung und Verhalten. Diese Themen, die heute zum Untersuchungsgegenstand der Ökologie zählen, existierten damals noch gar nicht und wurden gewissermaßen von ihr aus der Taufe gehoben.
Florencia Campetella, Max-Planck-Institut für chemische Ökologie
Maria Sibylla Merian
Vigne blanche d’Amerique, kolorierter Kupferstich, in: Metamorphosis Insectorum Surinamensium, 1705, Bildtafel 47, ZBZ
Anna Waser, Frontispiz, Radierung, in: Johann Jakob Scheuchzer, Itinera per Helvetiae alpinas regiones, dritter Teil, [Brittenburg] 1724, ZBZ
Johann Jakob Scheuchzer, Frontispiz des Stammbuchs, 1691, Zeichnung koloriert, ZBZ, Z II 649
Anna Waser, Selbstbildnis als Flora, Zeichnung, in: Stammbuch von Johann Jakob Scheuchzer, 12. Juli 1697, ZBZ, Z II 649
Maria Clara Eimmart, Zeichnung der Mondoberfläche, Aquarell, in: Stammbuch von Johann Jakob Scheuchzer, 16. August 1695, ZBZ, Z II 649
Im Stammbuch von Johann Jakob Scheuchzer haben sich die Einträge der Künstlerinnen Anna Waser und Maria Clara Eimmart erhalten. Scheuchzer zog Anna Waser, seine Cousine zweiten Grades, mehrfach für Illustrationen heran. Sie entwarf für seine Publikation Itinera alpina die Frontispize des zweiten und dritten Teils. Das Werk war der Royal Society of London zugeeignet. Kein geringerer als Sir Isaac Newton, Präsident der Gesellschaft, beteiligte sich an den Druckkosten. Aus dem Brief von John Thorpe, dem Verantwortlichen für die Drucklegung, an Scheuchzer geht hervor, dass auf die Namensnennung von Waser grossen Wert gelegt wurde: «I shall take peculiar care to insert [the name of] the most Ingenious Madame Anne Waser» (Brief vom 11.12.1706 an Scheuchzer, ZBZ, Ms H 296, S. 143). Mit grosser Akribie führte Waser auch wissenschaftliche Zeichnungen fossiler Objekte für Scheuchzers Icones pro lexico diluviano aus.
Georg Christoph Eimmart (1638–1705), der Erbauer der Nürnberger Sternwarte, war ab 1699 Direktor der Malakademie, die von seinem Schwager Jacob von Sandrart (1630–1708) gegründet worden war. Er bildete seine Tochter Maria Clara Eimmart nicht nur im Zeichnen, Malen und Radieren, sondern auch in Mathematik und Astronomie aus. Zwischen 1693 und 1698 fertigte Maria Clara Eimmart 250 Zeichnungen an, die als Vorarbeiten zur Kartierung des Mondes dienen sollten. Nach einem Besuch Scheuchzers in Nürnberg 1695 entspann sich eine Korrespondenz, von der fünf Brief der Astronomin in der Zentralbibliothek erhalten sind (ZBZ, Ms H 297, S. 61–78).
Martha Stettler, Anatomische Studie eines Rückenakts, um 1895, Bleistift, Kohle und Farbstift, ZBZ
Martha Stettler, Geltengletscher, zwischen 1904 und 1923, Öl auf Holz, ZBZ
Martha Stettler wurde in ein kunstaffines Umfeld geboren. Ihr Vater, Eugen Stettler (1840–1913), war der Berner Stadtbauinspektor und Architekt des dortigen Kunstmuseums. Jenseits der damaligen gesellschaftlichen Konventionen unterstützten ihre Eltern eine profunde Kunstausbildung in Bern und Genf. Zusammen mit ihrer Studienkollegin und späteren Lebensgefährtin Alice Dannenberg (1861–1948) wagte Stettler mit 23 Jahren den Schritt nach Paris, der Metropole des Impressionismus. Nach einer kurzen Ausbildungszeit an der Académie Julian wechselte Stettler ab 1894 zu dem Historienmaler Luc-Olivier Merson (1846–1920). Im ausgehenden 19. Jahrhundert gestatteten nur wenige Ateliers Frauen das Aktstudium, das sie für lukrative Aufträge der Historienmalerei befähigte. Erst nach bestandenem Anatomiekurs liess Merson die Studierenden zur Ölmalerei zu. Die ausgestellte Studie stellt Martha Stettlers forschenden Blick auf den menschlichen Körper unter Beweis. Noch im ersten Jahr malte sie einen Rückenakt in Öl und erfüllte offensichtlich die Vorgaben des Lehrers. Unter dem Akademismus leidend, suchte sie 1898 Förderung bei Lucien Simon (1861–1945), der sie in die impressionistische Ölmalerei einführte.
Um die Jahrhundertwende gründeten Stettler und Danneberg einen losen Malzirkel, in dem die Teilnehmenden unter anderem von Simon angeleitet wurden. Aus dem stark besuchten Malzirkel ging die Académie de la Grande Chaumière hervor, der Stettler und Dannenberg ab 1909 als Leiterinnen vorstanden. Zur Zeit von Martha Stettler belegten so bedeutende Künstlerinnen wie Louise Bourgeois (1911–2010), Meret Oppenheim (1913–1985) und Germaine Richier (1902–1959) Kurse an der Grande Chaumière.
Wahrscheinlich […] würde ich noch heute bei ihm [Luc Olivier Merson] zeichnen, wenn ich mich nicht endlich von dem fürchterlichen Zwang losgemacht hätte. […] Das war wie aus einem dämmrigen Zimmer in den Sonnenschein.
Die historischen Barrieren zur künstlerischen Selbstverwirklichung zwangen weibliche Kunstschaffende nicht selten zu alternativen Vorgehensweisen, um sich das Handwerk für die Kunstausübung anzueignen. Das Porträtieren von Verwandten und Bekannten als kostenlose Modelle sowie das Kopieren nach Vorlagen waren praktische Übungen, die auch in der häuslichen Umgebung stattfinden konnten. Der Zugang zu Lehrstellen, Werkstätten oder Kunstschulen war den Künstlerinnen lange verwehrt. Erst um 1870 wurden in Europa die ersten privaten «Damenakademien» eröffnet, deren Gebühren nicht unerheblich waren. Gleichzeitig boten diese Einrichtungen den unterrichtenden Künstlerinnen ein Einkommen.
Verwandte als Modelle: Susette Hirzel
Conrad Hirzel (1772–1844) war drei Jahre jünger als seine Schwester Susette (1769–1858), Hans Caspar (1764–1800) fünf Jahre älter. In ihrer Jugend war die Künstlerin noch genug selbstbewusst, die Porträts ihrer Familie in aussergewöhnlichem Grossformat (54 x 37,5 cm) zu gestalten. In feinem Grafit hat sie ihre Brüder in stark kontrastierenden Schattierungen gezeichnet. Die intimen Nahaufnahmen strahlen familiäre Vertrautheit aus. Der Ausdruck des jungen Hans Caspars in Uniform wirkt rückblickend fast melancholisch, da er elf Jahre später (1800) im militärischen Einsatz sein Leben verlor.
Obwohl sich Susette Hirzels Tätigkeit sich nur im beschränkten Rahmen der normativen, bürgerlichen Definition einer Zürcher Dame des späten 18. Jahrhunderts abspielen konnte, wurde sie bereits in jungen Jahren berühmt: Der Künstler Johann Rudolf Schellenberg (1740–1806) bezeichnete sie als «die zukünftige Angelika» (Kauffmann), und dutzende Familienporträts entstanden aus ihrer Hand, bis sie im Alter von ungefähr dreissig Jahren ganz mit dem Zeichnen und Malen aufhörte. Nach mehreren familiären Todesfällen und der Einsicht in die limitierten Zukunftsperspektiven als Künstlerin hatte sie ihren künstlerischen Antrieb verloren.
Sie setzte das Zeichnen und Mahlen, in Oehl und Pastell, noch ein Paar Jahre fort, bis Bestellungen kamen, und ihr Vater ihr die Kunstübung gänzlich untersagte, weil er es für unehrenhaft hielt, dass sie solche gleichsam als ein Handwerk treibe.
Das Leben der Künstlerin Margarete Greulich war aufgrund ihrer schwierigen Ehe mit viel Leid verbunden. Trotzdem war sie als Malerin erfolgreich und konnte stets auf die Unterstützung ihrer Eltern sowie anderer Künstlerinnen wie Dora Hauth-Trachsler (1874–1957), mit der sie eng befreundet war, zählen.
Greulichs Porträt ihres Vaters Herman Greulich (1842–1925) wurde an der Weltausstellung 1889 in Paris gezeigt. Vier Jahre später schuf sie anlässlich des Internationalen Sozialistenkongresses in Zürich das «Kolossalporträt» von Karl Marx. Nach ihrem frühen Tod ehrte sie das Kunsthaus Zürich 1919 mit einer Gedächtnisausstellung.
Margarete Greulich
Doppelporträt der beiden Töchter, Gretli und Leni, 1904, Öl auf Leinwand, Privatbesitz (nicht in der Ausstellung)
Margarete Greulich
Doppelporträt der beiden Töchter von Margarete Greulich, Leni und Gretli, 1903, anonyme Fotografie, Schweizerisches Sozialarchiv (nicht in der Ausstellung)
Im Doppelporträt der beiden Töchter, 1904 noch im realistischen Malstil ausgeführt, wird die starke Verbundenheit der Mutter sichtbar.
In ihrem Schicksal spiegelt sich in ergreifender Tragik der Konflikt der Pflichten im modernen Frauenleben wieder […]. Ihr erschien als Selbstverständlichkeit, was nur eine zärtlich liebende, aufopfernde Mutter über sich vermag: die Künstlerschaft der hohen Naturbestimmung des Weibes unterzuordnen.
Seit dem 15. Jahrhundert war das Kopieren von Gipsmodellen sowie von bestehenden Kunstwerken eine praxisbewährte Methode, um das Handwerk der Kunst zu erlernen. Erst danach wurde Künstlern Zugang zum lebenden Aktmodell – dem Mass aller Dinge – in separaten Räumen gewährt. Frauen durften diese Räume nicht betreten. Es hätte als unschicklich gegolten.
In der Slade School of Art in London waren bis 1897 zwei Drittel der Studierenden weiblich. Sie durften aber ihre künstlerischen Kompetenzen ausschliesslich durch das zeichnerische Replizieren von Gipsmodellen erlangen, wie der Holzstich von 1881 bezeugt.
Solche asymmetrische Geschlechterverhältnisse unter Lernenden versinnbildlichten die viktorianische Unsicherheit und Angst um das Thema «Weiblichkeit» und deren Definition. Zudem dominierte in der damaligen Kunsttheorie die Idee, dass Künstlerinnen bloss des Kopierens und Reproduzierens fähig seien. Die «inventio», die Schöpfung von Kunstwerken, war noch im 19. Jahrhundert eine vermeintlich männliche Kompetenz.
Margarete Greulich
Drei Hände, ein Fuss, Undatiert, Bleistift auf Papier, Schweizerisches Sozialarchiv (nicht in der Ausstellung)
Für Künstlerinnen wie die junge Margarete Greulich bot diese Praxis Gelegenheit, die menschliche Anatomie sorgfältig zu erkunden, wie diese undatierten Bleistiftstudien von Händen und Füssen aus Gips veranschaulichen. Wahrscheinlich stammen diese Zeichnungen aus den ersten Ausbildungsjahren der Künstlerin. Ihr Vater empfahl seiner Tochter bereits 1886 während des Studienaufenthalts in Berlin, Kurse in Aktzeichnen zu belegen.
Du soltst doch noch ein drittes Fach, wenn möglich Aktzeichnen belegen, damit das Ganze denn doch mehr den Charakter eines wirklichen Schulbesuches gewänne.
Claude-Marie Dubufe
The Surprise, vor 1827, Öl auf Leinwand, The National Gallery, London (nicht in der Ausstellung)
Elisabeth Pfenninger
La Pudeur, 1827, Gouache, ZBZ
Elisabeth Pfenninger kopierte noch im hohen Alter bestehende Kunstwerke. Eine exquisite oval-förmige Gouachezeichnung von 1827, opulent montiert in einem mit Purpursamt überzogenen Rahmen erhielt den Titel La Pudeur – von wem wissen wir nicht. Die Miniatur sei «d’après Dubufe» (gemäss Notizen verso). Die originale Vorlage bleibt bis dato unidentifiziert, sie wäre jedoch inhaltlich und stilistisch charakteristisch für den Künstler Claude-Marie Dubufe (1790–1864), verkörpert in seinem Werk The Surprise, heute in The National Gallery in London.
Bis 1827 war die Zürcher Künstlerin eine erfolgreiche Miniaturmalerin mit lukrativen Aufträgen in Paris und bewegte sich in Kreisen schillernder weiblicher Intellektueller wie Élisabeth Vigée-Le Brun. Obwohl es für angehende Künstlerinnen gängige Praxis war, existierende Originale und Drucke zu kopieren, bleibt unklar, warum Pfenninger mit 55 Jahren gerade dieses kleine, tragbare Duplikat der Personifikation der «Scham» anfertigte, die unmissverständlich das konventionelle erotisierte Frauenbild versinnbildlicht. Vielleicht war es als Werbung für ihr aussergewöhnliches Können und für das Geschäft einer weiblichen Miniaturmalerin intendiert.
Demoiselle Pfenninger brachte von 1810 an eine grosse Anzahl von Werken auf die Salons in Paris, und immer zählte man ihre Bildnisse zu den glänzenden Erzeugnissen der Miniaturmalerei. Auch einige Copien nach berühmten älteren Malwerken hatte sie in früherer Zeit geliefert.
Nagler's Künstler-Lexikon, 2. gänzlich neubearb. Aufl., Leipzig 1872–1875, S. 214
Kunstschulen: Die Ausbildungsproblematik
Seit dem 17. Jahrhundert fungierten sogenannte Akademien als offizielle Ausbildungsstätte für Kunstschaffende. Nur liessen sie keine Frauen zu. Unternehmerisch denkende Menschen haben dann ab Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa ihre eigenen Privatakademien gegründet. Nicht selten waren es Frauen, die für das Unterrichten ihres Geschlechtes sorgten.
Auch Schweizerinnen finden wir in dieser Domäne: Anna Susanna Fries (1827–1901) rief 1871 in Florenz eine Kunstschule für Damen ins Leben, Martha Stettler (1870–1945) hatte 1909 die Académie de la Grande Chaumière in Paris mitgegründet und von 1909 bis 1943 mit Ihrer Lebenspartnerin Alice Dannenberg (1861–1948) geleitet. In Zürich eröffnete die Malerin Hortensia Luise Stadler (1864–1942) die erste weibliche Kunstschule im Jahr 1899 und Dora Hauth-Trachsler (1874–1957) 1914 eine Malschule, an der sie auch selbst Unterricht erteilte.
Die Stadler’sche Schule existierte an der Böcklinstrasse in Zürich zwischen 1899 und 1913. «Luise Stadler selbst erteilte Unterricht im Zeichnen und Malen von Stilleben, nach Gipsabgüssen und lebenden, oft kostümierten Modellen» (Roman G. Schöngauer in Turicum, Februar 1983, Nr. 193, S. 27). Zudem war von Anfang an Hermann Gattiker (1865–1950) als Lehrer angestellt, der den Studierenden die Landschaftsmalerei auf Reisen im Kanton Zürich nahebrachte. Zu den renommiert gewordenen Schülerinnen zählt Helen Dahm (1878–1968).
Dora Hauth–Trachsler (1847–1957) war eine der wenigen Kunstschulgründerinnen, die aus armen Verhältnissen stammte. Noch als sie an der Kunstgewerbeschule Zürich studierte, war sie abends zusätzlich in der Heimarbeit tätig. Bekannt wurde Hauth-Trachsler durch ihr Plakat 1911 für das Eidgenössische Schwing– und Älplerfest in Zürich. Vor allem aber entwarf sie Kunstwerke für politische Themen, beispielsweise das Plakat für die Frauenstimmrechtskampagne 1920 im Kanton Zürich. 1914 eröffnete sie eine Malschule in ihrer kleinen Zürcher Wohnung, die auch als Atelier fungierte. Nebst dem Unterricht arbeitete Hauth–Trachsler als Porträtistin: Bildnisse von Albert Einstein und der Gewerkschafterin Verena Conzett zeugen von einem markanten Realismus. Ihr Gemälde Die Menschheitskämpferin wurde an der SAFFA–Ausstellung 1928 ausgestellt und zeigt eine Frau, die willensstark einen Kristall vor den Fluten schützt – Symbol für den solidarischen Zusammenhalt des nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten Konsumgenossenschaftlichen Frauenverbundes der Schweiz.
Anna Susanna Fries
Kunstschule für Damen, Florenz, Villa Pellegrina, 1875, Werbeblatt, ZBZ
Anonyme Fotografie
Die Zürcher Malerin Luise Stadler auf dem Velociped in Frankfurt (Ausschnitt aus einer breiteren Fotografie), 1896, Wikimedia Commons (nicht in der Ausstellung)
H. Hirzel
Eingang zur Kunstschule der Luise Stadler in Zürich, ca. 1899, Lichtdruck, ZBZ (nicht in der Ausstellung)
Berthy Moser
Malerklasse der «Kunst- und Kunstgewerbeschule für Damen» von Luise Stadler, Zürich, 1911, Lichtdruck einer Fotografie, Wkimedia Commons (nicht in der Ausstellung)
H. Hirzel
Ausstellungsraum der Kunst- und Kunstgewerbeschule von Luise Stadler, Zürich, ca. 1899, Lichtdruck, ZBZ (nicht in der Ausstellung)
Albert Jansen van Rosendal
Dora Hauth vor der Staffelei, undatierte Fotografie, Fundaziun Capauliana, Chur (nicht in der Ausstellung)
Dora Hauth-Trachsler
Die Menschheitskämperferin, 1928, Öl auf Leinwand, Schweizerisches Nationalmuseum (nicht in der Ausstellung)
Trotz unermüdlicher Arbeit vermochte Dora Hauth sich zeitlebens finanziell nur knapp über Wasser zu halten. Mit ihren Sorgen und Anliegen mag sie exemplarisch für viele Künstlerinnen ihrer Zeit stehen.
Elisabeth Rickenbacher, Seit ich aufrecht sitzen konnte, zeichnete ich fast immer. Die Zürcher Malerin und Grafikerin Dora Hauth-Trachsler (1874-1957), in: Librarium, 66 (2023), S. 1
Wilhelm Bendz
The Life Class at the Royal Academy of Fine Arts, Kopenhagen, 1826, Statens Museum for Kunst Kopenhagen (nicht in der Ausstellung). Diese Szene steht exemplarisch für die singuläre Atmosphäre der zahlreichen männerdominierten Räume des Aktzeichnens
Gemälde-Reproduktion nach Jacques-Louis David
Paris et Hélene: Musée du Louvre, um 1899, Photochromdruck, ZBZ (nicht in der Ausstellung). Nach einem exakten Schema hatten die idealisierten Körper zu erscheinen: von wem determiniert? Weshalb?
Der Faszination in der europäischen Kunst für den nackten menschlichen Körper liegen zahlreiche Ursachen zugrunde. Aus technischer Sicht bietet die menschliche Anatomie Gelegenheit zur Übung oder Experimentieren mit Farbnuancen, Licht/Schatten, Gesten und Modellierung. Zudem ist der Körper Mittel für den Ausdruck von physischen und emotionellen Zuständen, sowohl des Individuums wie auch zwischenmenschlich. Bekanntlich war das Studium des nackten Körpers (Aktzeichnen) seit der Renaissance ein wesentlicher Teil der künstlerischen Ausbildung, ein Ritual nur für Eingeweihte. Als Folge dieser Konvention etablierte sich eine ausschliesslich von Männern definierte Tradition des Aktes in der europäischen bildenden Kunst.
Die Historienmalerei mit ihren Darstellungen heroischer und idealisierter Interpretationen historischer Szenen stand zuoberst auf der Hierarchie der Kunstgattungen. Sie setzte zeichnerische Fähigkeiten und Studium des Aktzeichnens voraus.
Wie geschah der Durchbruch zum Aktzeichnen für Künstlerinnen?
Für die Mehrheit europäischer Frauen galten bis ins 19. Jahrhundert ein Aktverbot. Mit der aufkommenden Fotografie ab circa 1870 wirkte diese Zensur absurd. Zudem hinterfragte die klassische Moderne herkömmliche Sujets, Stile und Techniken. Auf diese Weise entstand eine neue Sichtweise, in welcher der traditionelle Akt verstaubt und irrelevant schien. Form, Licht, Farbe und subjektive Perzeption wurden vermehrt selbst zum Gegenstand der Kunst, sodass naturalistische Darstellungen völlig uninteressant wirkten. Vor diesem Hintergrund erhielten Künstlerinnen Zutritt zu den hehren Hallen des Aktzeichnens.
Margarete Greulichs Ölstudien entstanden 1914 während eines Aufenthalts in München, wohin die Künstlerin auf Rat von ihrer Künstlerfreundin, Dora Hauth (1874–1957) ging, um die neusten Techniken zu erlernen. Greulich war zu dieser Zeit bereits eine etablierte Künstlerin in Zürich, die ungewöhnlicherweise nicht aus der Oberschicht, sondern einer sozialistisch geprägten Umgebung einstammte.
Margarete Greulich
Männlicher Akt, 1914, Öl auf Karton, Schweizerisches Sozialarchiv
Margarete Greulich
Männlicher Akt (Ausschnitt) , 1914, Öl auf Karton, Schweizerisches Sozialarchiv
Margarete Greulich
Weiblicher Akt, 1914, Öl auf Leinwand, Schweizerisches Sozialarchiv (Nicht in der Ausstellung)
Margarete Greulich
Weiblicher Akt Ausschnitt), 1914, Öl auf Leinwand, Schweizerisches Sozialarchiv (Nicht in der Ausstellung)
Gemälde wie ihre männlichen und weiblichen Akte von 1914 weisen sowohl noch akademische Merkmale (die Pose des Modells oder den Blickwinkel der Betrachterin) als auch moderne künstlerische Trends auf: lockere, sichtbare Pinselstriche und Hauttöne in kontrastierenden Schattierungen aus Blau, Braun und Grün, um die Körperlichkeit des anonymen Modells zu betonen. Wenige Jahre zuvor wären diese Darstellungen undenkbar gewesen.
Stefanie Rabinovitch-von Bach (1884–1966)
Stefanie von Bach’s undatierte Tuschezeichnung sowie ihr Exlibris von 1916 verherrlichen mit einer neuen Selbstverständlichkeit den nackten Körper des Mannes, der für Künstlerinnen anfangs des 20. Jahrhundert terra nova war. Eine entsprechende Tradition wie diejenige zwischen dem Künstler und dem weiblichen Akt gab es nicht, und die Beziehung zwischen der Kunstschaffenden und ihrem Modell musste noch ausgehandelt werden.
Stefanie von Bach
Männlicher Akt, undatiert, Tuschezeichnung, ZBZ (nicht in der Ausstellung)
Stefanie von Bach
Exlibris für Gr. Rabinowitch, 1916, Farbholzschitt, ZBZ
Stefanie von Bach
Männlicher Akt (Ausschnitt), undatiert, Tuschezeichnung, ZBZ (nicht in der Ausstellung)
Stefanie von Bach
Exlibris für Gr. Rabinowitch (Ausschnitt), 1916, Farbholzschitt, ZBZ
In der Tuschezeichnung stellt von Bach den anonymen Akt in einer traditionellen Stellung dar: heroisch und muskulös. Durch ihr freies, ungehemmtes Hinschauen bricht sie jedoch ein Tabu, stilistisch und als Zeichen für Männlichkeit bleibt alles beim alten Schema. Seine Pose verkörpert die bisherigen maskulinen Werte. Wahrscheinlich war sogar ein athletischer Körperbau Grundbedingung für das Modellstehen. Eine vergleichbare Gestalt dominiert mit herkulischer Statur das Exlibris der Künstlerin: Von Bach hat ihren Verlobten, den Künstler Gregor Rabinovitch, in einen idealisierten Männerkörper versetzt, der in scharfem Kontrast über das posierende Damentrio hinausragt.
Nach der Geburt ihrer Tochter Isa, 1917, hat sich Stefanie Rabinovitch, soweit bekannt, nicht mehr als Künstlerin betätigt.
Stefan Hausherr, Traumgestalten: Das Exlibris-Werk von Gregor Rabinovitch, Zürich 2006, S. 140
Regina de Vries (1913–1985): Blickwechsel
Regina de Vries
Le Baiser, 1952, Farbholzschnitt, ZBZ
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts eigneten sich Künstlerinnen das Aktzeichnen für alternative Sehweisen an. Regina de Vries' Holzschnitt Le Baiser von 1952 imaginiert visuell ein harmonisches Verhältnis zwischen Frau und Mann. Aus den beiden Körpern wird eine Einheit, sie verschmelzen zu einer Form, die sehr ästhetisch, fast abstrahiert wirkt. Als Bildhauerin hat de Vries auch zweidimensionale Werke in strukturierten Gebilden und Farben modelliert. Idealisierte Nacktheit ist hier in keinerlei Weise das Sujet dieser Künstlerin, eher hat de Vries die Nacktheit zu einer alltäglichen Tatsache stilisiert. Im lilafarbigen Interieur räumlich verankert, legen orange und grüne Vertikale den Akzent auf die überlängten Figuren, wobei die Holzfasern des Holzstocks noch sichtbar sind. Der Körper wird als ein Element der Natur repräsentiert, gleichzeitig funktioniert er als Bestandteil der bildlichen Komposition.
Regina de Vries
Figure ornamentale II, 1954/55?, Druckstock aus Holz, ZBZ (nicht in der Ausstellung)
Regina de Vries
Figure ornamentale II, 1954/55?, Holzschnitt auf Japanpapier, ZBZ (nicht in der Ausstellung)
Regina de Vries
Figure ornamentale II, 1954/55?, Druckstock aus Holz, ZBZ (nicht in der Ausstellung)
Regina de Vries
Figure ornamentale II, 1954/55?, Farbiger Holzschnitt auf Japanpapier, ZBZ (nicht in der Ausstellung)
Regina de Vries
Figure ornamentale II, 1954/55?, Farbiger Holzschnitt auf Japanpapier, ZBZ (nicht in der Ausstellung)
Stufenweise wurden de Vries’ Druckgrafien, die noch während den fünfziger Jahre figurativ geprägt waren, abstrakter. In der Holzschnitt-Serie Figure ornamentale II von 1954/55 verwendet Regina de Vries den Frauenakt als Ausgangspunkt für eine abstrakte Zusammenstellung in verschiedenen Farben. Die optische Überblendung des Frauenkörpers mit der Natur der Pflanzenwelt wiederholt sich häufig in ihrem Werk. Die Akte sind nicht zum Begehren zur Schau gestellt, sondern erscheinen in Harmonie der Farben und Formen mit der natürlichen Welt.
…das so typisch für die ganze Kunst von Regina de Vries ist, nämlich jene innere Heiterkeit, die dem ganzen Werk der Künstlerin etwas Beschwingtes, etwas befreiendes schenkt.
Isa Hesse-Rabinovitch (1917–2003): Der Kult des Körpers
Bereits die Titel dieser Werke sprechen den menschlichen Körper an: Hautnah von 1985 und Body Body Blues aus dem Jahr 1986 sind Videoarbeiten, die die Künstlerin ab 1982 drehte. Als Wegbereiterin des Experimentalfilms anerkannt, ging Isa Hesse-Rabinovitch einen Schritt weiter: Dort, wo sie die Wirkung des Videoablaufs als besonders schön und wirkungsvoll empfand, stoppte sie das Video und machte farbige Fotoaufnahmen des Stills, die vergrössert und auf Aluminiumplatten montiert wurden. Die daraus neu entstandenen Fotografien wurden von der Künstlerin signiert und als selbstständige Kunstwerke 1987 in der "Galerie" an der Sonneggstarsse 66 in Zürich unter dem Namen Videoart ausgestellt.
In beiden dieser Kunstformen fungieren nackte Körper als musische und aufgelöste Elemente in abstrakten Kompositionen. Weit entfernt vom Akt als statische Figur gleiten die verfilmten Körperteile fluid ineinander. Herangezoomte Bestandteile werden zu eigenständigen bildlichen Elementen, deren Endeffekt ein abstraktes Bild ist. Aus dem Akt werden körperlose, zusammengeschmolzene Formen. Dadurch erhalten wir auf poetischer Art eine Vorahnung des heutigen Körperkults: Teile entfernen und gestalterisch neu zusammensetzen.
Isa Hesse-Rabinovitch
Still aus der Videoarbeit Hautnah, um 1985, Fotografie auf Aluminiumplatte, ZBZ
Isa Hesse-Rabinovitch
Still aus der Videoarbeit Hautnah, um 1985, Fotografie auf Aluminiumplatte, ZBZ (nicht in der Ausstellung)
Isa Hesse-Rabinovitch
Still aus der Videoarbeit Body Body Blues, um 1986, Fotografie auf Aluminiumplatte, ZBZ (nicht in der Ausstellung)
Isa Hesse-Rabinovitch
Still aus der Videoarbeit Body Body Blues, um 1986, Fotografie auf Aluminiumplatte, ZBZ (nicht in der Ausstellung)
Die Leute konnten damit nicht viel anfangen. Alles war verfremdet, alles war künstlich.
Annelies Ursin im Interview, Isa Hesse Rabinovitch – Das grosse Spiel Film,
Zürich: Reck Filmproduktion, 2009
Selbstbildnisse von Künstlerinnen werden erst langsam zum Gegenstand der Forschung, nachdem sie sich während des 20. Jahrhunderts zu einer eigenständigen Gattung entwickelt haben. Zunächst gilt es, den historischen Leerraum mit Daten zu füllen, damit wir die ausstehende und reichhaltige Geschichte von europäischen weiblichen Selbstporträts erzählen können. Diese zu dekodieren im Wissen, dass das Verständnis eines Kunstwerks sich ändern kann und sich neuen Erkenntnissen und Methodologien anpasst, bietet ein aktuell wichtiges Forschungsfeld.
Schon in mittelalterlichen Klosterhandschriften finden wir Selbstbildnisse von Frauen. Die zahlreichen Selbstdarstellungen der italienischen Künstlerin Sofinisba Anguissola (um 1532–1625) gelten heute als bahnbrechende Selbstporträts.
Neu auszuhandeln war die doppelte Identität der Künstlerin als Schöpferin und Sujet des Werkes zugleich. Darstellungen von Frauen in Kunstwerken gab es genug, aber die Repräsentation einer «Frau» in der Kunst war lange ausschliesslich aus dem Standpunkt von Männern determiniert. Wie haben sich Künstlerinnen gegenüber den herkömmlichen Stereotypen positioniert? Warum haben sich Künstlerinnen sich selbst zum Inhalt des Kunstwerks machen? Was war ihre Intention dabei?
Ein unerwartetes Surplus, wenn man sich mit weiblichen Selbstporträts auseinandersetzt ist, dass sie darüber informieren, wie es sich angefühlt hat, Künstlerin in einer Männerwelt zu sein
Frances Borzello, Wie ich mich sehe. Frauen im Selbstporträt, Wien 2016, S. 228
Wer bin ich? Verschleiertes Selbstbild: Anna Maria van Schurman (1607–1678)
Durch Selbstrepräsentation eine eigene visuelle Identität zu gestalten, war lange ein Minenfeld für Künstlerinnen. Als oberstes Gebot galt es, den sittlichen Normen zu entsprechen oder, wenn diesen abweichend, dann nur im eng definierten Parameter einer Ausnahme mit einhergehendem Personenkult: «Naturwunder» oder «Mirakel» wie im Fall von der Zürcherin Anna Waser (1678–1714). Eine solche Figur war Anna Maria van Schurman, das sogenannte «Alpha der Frauen», die in Utrecht wirkte, wohin ihre Familie aufgrund ihres puritanischen Calvinismus aus Köln übersiedelt war. Wie so oft, war es der Vater, der seine Tochter gefördert hatte. Ihre humanistische Ausbildung umfasste auch Unterricht im Kupferstichverfahren durch Magdalena, Tochter der etablierten Druckerfamilie van de Passe. Obwohl hauptsächlich für ihre gelehrten Schriften bekannt, schuf van Schurman über 50 kleinformatige Bilder, darunter mehrere Selbstporträts.
Anna Maria van Schurman
Selbstporträt als Pudicitia, ca. 1633, Öl auf Kupfer, Museum Martena, Franeker, Niederlande (nicht in der Ausstellung)
Anna Maria van Schurman
Selbstporträt als Pudicitia (Ausschnitt), 1633, Öl auf Kupfer, Museum Martena, Franeker, Niederlande (nicht in der Ausstellung)
Anna Maria van Schurman
Selbstporträt, 1633, Kupferstich, ZBZ
Anna Maria van Schurman
Selbstporträt (Ausschnitt), 1633, Kupferstich, ZBZ. Die Künstlerin vermeidet den direkten Blickkontakt.
Anna Maria van Schurman
Selbstporträt (Ausschnitt), 1633, Kupferstich, ZBZ (Zuammenfassung: «Weder Arroganz noch Schönheit hat mich zum Selbstbildnis geführt, sondern die Wahl eines unwichtigen Sujets für meinen ersten, unbeholfenen Versuch.»)
1633, als sie sechsundzwanzig Jahre alt war, stellte sich van Schurman als Pudicitia (die griechische Göttin der Keuschheit) dar, indem sie sich hinter einem Schleier verbarg. Dieses Selbstbildnis zeugt von einem vorsichtigen Balanceakt zwischen Selbstpromotion und inszenierter Reinheit. Als «Ausnahme» durfte van Schurman Lehrveranstaltungen an der Universität Utrecht besuchen, allerdings in einem eigens für sie erbauten Gehäuse und hinter einem Vorhang, um ihre Reputation zu schützen: Unsichtbarkeit war unerlässlich.
Sie warb unermüdlich für Frauenbildung, war selbst ein brillianter Geist, stellte sich jedoch gleichzeitig in ihren Selbstbildnissen als sittsam und angepasst dar. Der Kupferstich zeigt nur die obere Hälfte der Künstlerin (Brustbildnis), eng korsettiert und praktisch vergittert im engen Kleid, das fest bis zum Hals zugeknöpft bleibt. Ihre Hände sind absichtlich unsichtbar: Die Künstlerin versteckt sie hinter einer mauerähnlichen Inschrift, die ihre Bescheidenheit und Demut deklariert. Van Schurman verkörpert die bewunderte Sonderfrau: elitär und exklusiv für Eigenwerbung sorgend, zugleich demütig und devot repräsentiert.
Guter Gott ...Ich bitte Sie inständig, liebe Frau, lassen Sie meinem Geschlecht auch noch etwas übrig und belasten Sie Ihre geistigen Kapazitäten, mögen sie auch noch so umfänglich sein, nicht über Gebühr!
Adolph Vortius (1597–1663), zitiert nach: Michael Spang, Wenn sie ein Mann wäre, Darmstadt 2009, S. 68
Selbstinszenierung: Elisabeth Pfenninger (1772–1847)
Während des 18. Jahrhunderts war es für privilegierte Frauen möglich und im Trend, den Ruf als kultivierte Dame – femme savante – zu erlangen. Inspiriert von französischen Intellektuellenkreisen, wurden selbstbewusste Frauen dazu angespornt, sich im Stil von Louise-Élisabeth Vigée-Le Brun (1755–1842) als glamourös und attraktiv zu inszenieren. Elisabeth Pfenninger kennte Vigée-Le Brun persönlich. Die Zürcherin lebte während vierzig Jahren in Paris, unverheiratet und als erfolgreiche, gefragte Miniaturmalerin, die regelmässig an den Pariser Salons ausstellte, eine Medaille gewonnen hat und selbst Unterricht erteilte.
Zu Lebzeiten berühmt und angesehen, hatte Pfenninger Einträge in etlichen wichtigen Nachschlagewerken der Zeit, ging jedoch von der späteren Geschichtsschreibung vergessen. Die zeitgenössische Rezeption von ihr verwendete Begriffe, die ihre feminine Natur hervorhoben: «Zartheit, Geschmack, hohe Vollendung und einen höchst reizenden, lieblichen Farbenton».
Elisabeth Pfenninger
Ein (mögliches) Selbstporträt, um 1800, Feder, grau und braun laviert, ZBZ («Das reizende Blatt» wurde auf der ersten Seite des Hefts Turicum, Winter 1975 veröffentlicht).
Elisabeth Pfenninger
Ein (mögliches) Selbstporträt (Ausschnitt), um 1800, Feder, grau und braun laviert, ZBZ
Elisabeth Pfenninger
Selbstporträt, zwischen 1800 und 1810, Aquarell, Kunsthaus Zürich
Elisabeth Pfenninger
Selbstporträt (Ausschnitt), zwischen 1800 und 1810, Aquarell, Kunsthaus Zürich
«Hier sendet dir durch meine Hand / Lisette … Ihr Bild zum Angedenken.» Das Jugendporträt von Pfenninger mit dieser Widmung zeigt sie in Ganzfigur, in einer rustikalen Landszene, wahrscheinlich im Kanton Zürich. Alles strahlt Frische und Fülle aus. Das reife Weizenfeld hinter ihrem Rücken steht für jugendliche Gesundheit. Der senkrechte Rauch aus dem Schornstein des Häuschens wiederholt die Vertikale des Federschmucks auf dem modischen Strohhut. Generell setzt das Bild einen Hauptakzent auf die Kleidermode. Pfenninger hat sich mit Bändchen, Schleifen und Fächer geschmuckt und trägt modebewusste Spitzschuhe. Nichts mehr ist von den einst strengen Zürcher Kleidermandaten zu spüren.
Die Dargestellte flaniert allein durch eine pastorale Landschaft, eine neue Aktivität im späten achtzehnten Jahrhundert. Verena Bodmer-Gessner beschreibt dies in Die Zürcherinnen von 1961: «Die Frauenzimmer schwelgten in einem neuen Naturgefühl und in ihrer ersten Freiheit, die sie süss und kostbar dünkte.» (S. 82).
Einige Jahre später malte die Künstlerin eine ganz andere Version ihrer Selbst im Miniaturformat, vielleicht als Trauernde, da schwarz dominiert. Wir sehen das Brustbild einer gutsituierten Dame – einer talentierten und erfolgreichen Malerin, auch wenn deren Attribute hier weggelassen wurden. Pfenningers Auftritt zeichnet sich durch geschmackvolle, kostbare und modische Accessoires im klassizistischen Stil mit einer aufwändigen Frisur aus. Einmal wieder schauen uns die Augen nicht gerade an. Sich im Spiegel zu betrachten war für eine Selbstdarstellung nötig: ob hier der etwas abgewendete Blick eine Folge dessen ist oder, wie so vieles in diesem Bild, ein kodifiziertes Zeichen für Respektabilität?
Diese beherrschte Selbstdarstellung steht im starken Kontrast zu Pfenningers zwiespaltige Werk La Pudeur (in der Ausstellung), obwohl beide Porträts auf unterschiedliche Art die Repräsentation des Weiblichen ansprechen.
Wir kennen höchst anmuthige und zierliche Miniaturportraits ... und halten sie hierin für stärker, als alle Zürcherkünstler vor ihr.
Wilhelm Füssli, Zürich und die wichtigsten Städte am Rhein, 2. Ausg., Leipzig 1846, Bd. 1, S. 146
Maske: Stefanie Rabinovitch-von Bach (1884–1966)
Eine moderne Sensibilität ergründete ab ca. 1900 das Selbst: Wer und warum bin ich? Auch in Selbstdarstellungen von Künstlerinnen aus der Zeit ist dies erkennbar. Schliesslich hatten Frauen darin bereits Übung, da sie Selbstkontrolle und Selbstkritik gewohnt waren. Stefanie Rabinovitch-von Bach berichtete unverhüllt und ehrlich in ihren (nicht publizierten) Tagebüchern über anhaltende Identitätskrisen als Künstlerin und als Frau, die intensiv nach Selbsterkenntnis strebte.
Stefanie Rabinovitch-von Bach
Selbstporträt im Maskenball Kostüm , zwischen 1920 und 1930 (?), Aquarell, ZBZ (nicht in der Ausstellung)
Stefanie Rabinovitch-von Bach
Selbstporträt im Maskenball Kostüm (Ausschnitt), zwischen 1920 und 1930 (?), Aquarell, ZBZ (nicht in der Ausstellung)
Stefanie Rabinovitch-von Bach
Selbstporträt im Maskenball Kostüm (Ausschnitt), zwischen 1920 und 1930 (?), Aquarell, ZBZ (nicht in der Ausstellung)
Stefanie Rabinovitch-von Bach
Selbstporträt beim Malen, 1930er-Jahre, Aquarell, ZBZ
Die zwei hier gezeigten Selbstporträts sind undatiert, entstanden jedoch vermutlich zwischen 1920 und 1930 kurz hintereinander, als die Künstlerin Ehefrau und Mutter war. Format, Setting, Medium und Stil verbindet sie. Anlass zum Werk mit der Maske war wohl der Zürcher Künstlermaskenball. Die rechte Hand hält in einem Porträt einen Malpinsel, der sich im anderen Bildnis in eine Maske wandelt. Die Identität wird nicht verschleiert, obwohl die Tarnung griffbereit steht.
In beiden Bildern fixiert uns die Künstlerin souverän: Sie selbst entscheidet, welche Version von ihr die Welt zu sehen bekommt. Ob sie die Porträts zur subjektiven Selbstreflexion oder als konstruierte Repräsentation für die Aussenwelt malte, ist nicht bekannt. Diese Werke wurden weder ausgestellt noch verkauft und waren bis vor zwanzig Jahren im Familienbesitz.
Ich bin Kunst und Künstlerin zugleich, das ist der Fehler.
Wieder maskiert: Elisabeth Eberle (*1961)
Seit den 1970er Jahren ist das Genre weiblicher Selbstporträts regelrecht explodiert: Künstlerinnen holen, oft konfrontativ, einen jahrhundertelangen Rückstand auf. Aktuell verwischen sich im öffentlichen Diskurs die Grenzen der Geschlechter mit der Folge, dass wir «Selbstrepräsentation» als performativ und als eine bewusste Steuerung der Identität verstehen können. Elisabeth Eberle, Aktivistin und Künstlerin, spielt grandios mit der Konstruktion der weiblichen, kreativen Identität. Die Zürcher Künstlerin arbeitet in unterschiedlichsten Medien wie Installation, digitalen Drucken und Videos über Skulptur und Fotografie bis zu Zeichnung und Druckgrafik.
Elisabeth Eberle
Selfie aus der Lockdown Serie, 2020, Bilddatei, Privatbesitz (nicht in der Ausstellung)
Elisabeth Eberle
Selfie aus der Lockdown Serie, 2020, Fine Art Print, Privatbesitz (nicht in der Ausstellung). Mit einem Medium Wechsel auf «Fine Art Prints» verleiht die Künstlerin den gleichen Werken einen völlig prestigereicheren Wert.
In der digitalen Serie «Lockdown Selfies» von 2020 konfrontiert Eberle die Betrachtenden mit provokativen Abbildungen ihrer selbst (nur den Kopf) mit verschiedenen Masken aus alltäglichen Objekten. Die Idee vom Geschlecht als «Performance» ermöglicht ein bewusstes, manipulierendes Spielen mit der Identität.
Elisabeth Eberle
Selfie aus der Lockdown Serie, 2020, Fine Art Print, Privatbesitz (nicht in der Ausstellung)
Das Selfie ist niederschwellig und blitzschnell zu erstellen, ad hoc und augenblicklich, setzt kein grosses Knowhow, kein Spiegel voraus und ist meist zur ephemeren Existenz verurteilt. Mit der Wahl dieses demokratisierenden Genres tut sich Eberle sofort mit der anonymen Masse auf Social Media Plattformen zusammen.
Sie exponiert sich, aber mit Maske – universal sichtbar und gleichzeitig verhüllt. Anders als im 17. Jahrhundert ist dieses sich Kaschieren freiwillig, sogar explizit inszeniert und referenziert auf die junge Tradition des weiblichen Selbstporträts.
Anstelle von einer Selbst, die sich der Welt «wahrlich» offenlegt (wie beispielsweise im 20. Jahrhundert), konzipiert Eberle eine durchdachte Konstruktion: die Künstlerin geknebelt und verstummt. Diese Identität korrespondiert mit ihren Feststellungen über die Abwesenheit von Künstlerinnen in öffentlichen Sammlungen, in der Kunstkritik und auf dem Kunstmarkt, wie im Kunstwerk «Frauen* zählen» thematisiert (in der Ausstellung zu sehen).
Elisabeth Eberle
Selfie aus der Lockdown Serie, 2020, Fine Art Print, Privatbesitz (nicht in der Ausstellung)
Masken können einschränken, unterdrücken, die Identität entstellen und deren Trägerin verbergen, die auf ein Zeichen reduziert wird. Die Gegenstände in den «Lockdown Selfies» sind beladene Symbole: der Schweizerpass, ein zierliches Spitzendeckchen, Kopfhörer, das Waschmittel «Genie» oder mit «Fragil» bedrucktes Abdeckband. Das immer wiederholte Bild, jeweils mit anderen Masken, verstärkt die Message: nur schon das Wort «Lockdown» assoziieren wir mit Beschränkungen. Mit einem Wechsel des Mediums auf «Fine Art Prints» verleiht die Künstlerin den gleichen Werken einen prestigereicheren Wert.
Für mich stellen die Arbeiten (Lockdown Selfies) auch die Frage, wo die Grenzen zwischen Schutz, Bevormundung und Einschränkung verlaufen, eine Frage, die zusätzlich zur feministischen Dimension nun eine sozialmedizinische bekommen hat. Eine beliebte Methode, Frauen zum Schweigen zu bringen und verschwinden zu lassen, war schon immer ihr angeblicher Schutz.
Sich auf dem männlich geprägten Kunstmarkt zu behaupten, war nach der oft mühsam errungenen künstlerischen Ausbildung der nächste wichtige Schritt, um vom Malen, Zeichnen und Drucken leben zu können. Die Wege und Erfolge verliefen auch hier sehr unterschiedlich. Gelungene Karrieren wie jene von Ottilie W. Roederstein dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass unter männlichen Berufskollegen grosse Ressentiments gegen Frauen in der Kunst bestanden. Die Gegebenheiten des Kunstmarktes und die (Nicht)Beachtung durch die Kunstkritik waren Faktoren, welche die Rezeption in der Kunstszene und auf lange Sicht in der Kunstgeschichte wesentlich beeinflussten.
Ottilie W. Roederstein – Tradition statt Innovation
Die Karriere von Ottilie Wilhelmine Roederstein (1859–1949) war mit Ausstellungen unter anderem in den damaligen grossen Kunstmetropolen Berlin, Paris und Chicago international breit abgestützt. Während ihrer Ausbildung hatte sie Zugang zur Damenklasse der Berliner Akademie. Durch ihren unbedingten Willen, als Künstlerin zu reüssieren und finanziell ein unabhängiges Leben in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung zu führen, glückte Roederstein der Akt der Selbstermächtigung. In Bezug auf die Technik der Tempera- und Ölmalerei sowie der Wahl grosser Formate trat sie in Konkurrenz zu männlichen Berufskollegen. Sie machte insofern gezielt Konzessionen an den Kunstmarkt, als sie mit Porträts und Stillleben den gängigen Zeitgeschmack bediente.
Porträts eines Stadtpräsidenten
Ottilie W. Roederstein
Porträt von Hans Nägeli, Stadtpräsident, 1917–1928, 1930, Öl auf Leinwand, Kunstsammlung Stadt Zürich (nicht in der Ausstellung)
Ottilie W. Roederstein
Porträt von Hans Nägeli, Stadtpräsident, 1917–1928, 1930, Öl auf Leinwand, ZBZ
1930 malte Ottilie Roederstein das Porträt des Zürcher Politikers Hans Nägeli (1865–1945) in zwei Fassungen. Ein Porträt Nägelis in der Kunstsammlung der Stadt Zürich zeigt den ehemaligen Stadt- und Kantonsrat der Demo-kratischen Partei in Halbfigur vor dunkelblauem Grund. Dieses Bildnis wirkt durch den Bildausschnitt und die Gestik des Dargestellten «staatstragender», aber auch distanzierter, sein Porträt in der Zentralbibliothek durch den engeren Fokus auf Nägeli und die warme Farbe des Hintergrundes hingegen «persönlicher» – auch die leichte Drehung zu den Betrachtenden hin erzeugt mehr Nähe. Das erste Porträt Nägelis wurde als offizielles Porträt aufbewahrt, während das zweite in der Familie überliefert wurde. Der Vergleich veranschaulicht Roedersteins Talent als Porträtistin, durch feine Nuancen in der Gestaltung ganz unterschiedliche Facetten des Porträtierten herauszuarbeiten.
Auftraggeber, die repräsentative Porträts verlangten, eher von einer konservativen Kunstauffassung geprägt waren und dennoch die zeitgenössische Kunstentwicklung berücksichtigen wollten, fanden bei Roederstein die Synthese ihrer Ansprüche.
Barbara Rök, Ottilie W. Roederstein (1859–1937). Eine Künstlerin zwischen Tradition und Moderne, Marburg 1999, S. 69
Plastique – Plastic, Heft Nr. 1, 1937, ZBZ
Plastique – Plastic, Heft Nr. 2, 1937, ZBZ
Doppelseite aus Plastique – Plastic, Nr. 5, 1939, SIK-ISEA
Six Espaces Distinct, 1929, mit freundlicher Genehmigung von Bartha (nicht in der Ausstellung)
Formes désaxées, 1928, Baltimore Museum of Art (nicht in der Ausstellung)
«Wir zeigen in jeder Nummer einige authentische, sehr wenig bekannte Arbeiten, die am Beginn dieser Entwicklung stehn, ferner bringen wir Aufsätze von ganz ausserhalb stehenden Leuten, Wissenschaftlern. Es ist eine Zeitschrift von Künstlern gemacht, (…), ganz abseits von Kunsthandel und dergleichen.» So schreibt Sophie Taeuber-Arp am 22.12.1936, aus Paris an ihre Schwester Erika Schlegel-Taeuber über die Zeitschrift Plastique – Plastic, die von 1937 bis 1939 in fünf Nummern erscheint.
Nur wenige Exemplare der Zeitschrift sind erhalten geblieben. Zwei einzelne Hefte stammen aus dem Nachlass des Schweizer Kunsthistorikers Willy Rotzler und sind heute in der Zentralbibliothek Zürich. Eine gebundene Version aller fünf Hefte befindet sich in der Bibliothek der deutsch-schweizerischen Kunsthistorikerin Carola Giedion-Welcker, die mit Taeuber-Arp befreundet war.
Auf einer Doppelseite in Plastique – Plastic Nr. 5 (S. 22–23) sind zwei Werke von Taeuber-Arp abgebildet, die in der Zeitschrift aber weniger ihre eigenen Arbeiten vermarktet. In erster Linie tritt sie als Herausgeberin und Gestalterin in Erscheinung. Zu sehen sind die beiden Werke Six Espaces Distinct von 1929 (links) und Formes désaxées von 1928 (rechts). Letzteres befindet sich heute im Baltimore Museum of Art. Auch in Schwarz-Weiss zeigt sich die Spannung zwischen den beiden Werken auf der Doppelseite, geschickt inszeniert von der Gestalterin.
Plastic is a magazine devoted to the study and appreciation of Abstract Art; its editors are themselves painters and sculptors identified with the modern movement in Europe and America. Articles will appear in English, French or German.
Plastique – Plastic, Heft 1, 1937
Das Gemälde Midnight von Sonja Sekula (1918–1963) wurde im Frühling 1946 in der New Yorker Galerie Art of This Century von Peggy Guggenheim ausgestellt. Es war Teil der Serie Nightpaintings – 15 Gemälden mit Titeln wie Sleep Walker, Moon Dust oder Arctic Night. Die in Luzern geborene Malerin war in den 1940er- und frühen 1950er-Jahren in den USA sehr erfolgreich. Sie war Teil der New Yorker Kunstszene und bewegte sich im Umkreis von John Cage, Merce Cunningham oder Betty Parsons. Sie nahm auch an mehreren Ausstellungen teil und stand am Beginn einer vielversprechenden Karriere, jedoch blieb ihr der Erfolg nach ihrer Rückkehr in die Schweiz 1955 verwehrt. Zwar bescheinigte man ihr in der Zeitschrift Das Werk ein «starkes Talent». Sowohl Kunstmarkt als auch Kunstkritik in Zürich waren jedoch wohl noch nicht bereit für ihre Kunst, die sich bis heute in keine Schublade stecken lässt.
Sonja Sekula Midnight, 1945, Privatbesitz
Derzeit wird das Schaffen Sekulas und dessen Rezeption von der Kunsthistorikerin Bigna Guyer erforscht, die im Rahmen ihres Willy Bretscher-Stipendiums an der Zentralbibliothek eine Online-Ausstellung über die Künstlerin gestaltet hat.
Die Zusammenhänge mit amerikanischen Tendenzen liegen offenbar in der Art der Gegenstandslosigkeit, in der Betonung der Strukturen und den gerüstartigen Überschichtungen.
H.C., «Sonja Sekula. Galerie Palette», in: Das Werk, Nr. 3, 1957
Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich der Kinderbuchmarkt durch neue Drucktechniken und die damit mögliche Massenproduktion enorm vergrössert. Die Illustration von Kinder- und Jugendliteratur lag jedoch nicht nur in männlicher Hand. Frauen betätigten sich aus unterschiedlichen Gründen als Illustratorinnen: um sich finanziell für die künstlerische Arbeit abzusichern oder schlicht dem Wunsch folgend, als Illustratorin zu reüssieren. Der Erfolg stellte sich dementsprechend auch sehr unter-schiedlich, oder auch gar nicht ein. Die Arbeit als Illustratorin bot auch die Möglichkeit, Techniken und Motive zu erproben und allenfalls im künstlerischen Prozess weiter zu verarbeiten.
Margarete Goetz - Kinderfreundin
Klein Edelweiss im Schweizerland, als Zeichnung ...
(nicht in der Ausstellung)
... als Buchillustration ...
und als Postkarte.
Mit ihrem Erstlingswerk Klein Edelweiss im Schweizerland gelang der jungen Margarete Goetz (1869–1952) im Jahr 1892 ein «Bilderbucherfolg». Der Geschichte vom kleinen Blumenelfchen folgten um 1900 noch zwei weitere Bilderbücher mit Texten der Illustratorin. Der Erste Weltkrieg bedeutete jedoch einen massiven Einschnitt in die Tätigkeit der auch an naturwissenschaftlichen Motiven (vor allem Pflanzen, Insekten, Kleintieren und Reptilien) interessierten Künstlerin. Um 1914 begann sie Postkarten zu gestalten. Über hundert heute bekannte Karten nehmen zum Teil Motive ihrer Bilderbücher auf und waren lange als Glückwunschkarten zu Weihnachten und Neujahr beliebt. Aus heutiger Sicht als niedlich und kitschig betrachtet, trugen die Karten neben Kinderporträts und Zeichenunterricht zum Lebens-unterhalt der Familie der alleinerziehenden Künstlerin bei.
Margarete Goetz verlebte glückliche Jahre während ihrer Studienzeit in München, wo sie sich frei ihrer Kunst widmen konnte und am regen Gesellschaftsleben teilnahm. Später musste sie zum Lebensunterhalt von Mutter und Sohn beitragen, das hat sich auf ihre Bildproduktion ausgewirkt. Gezeichnet wurde, was sich auch verkauft. Das gilt nicht für die zahlreichen Porträts ihrer Enkelkinder, die ihr viel Freude machten.
Cordula Ertini, Enkelin der Künstlerin
Else Lasker-Schüler – Malerpoetin
Else Lasker-Schüler
Hâdassâh und ihre drei Männer 1934–1937, ZBZ
Zwischen 1933 und 1939 lebte Else Lasker-Schüler (1869–1945) in Zürich. Die jüdische Dichterin wurde vom nationalsozialistischen Regime ins Exil getrieben und hielt sich unter schwierigen Bedingungen in der Schweiz auf. Lasker-Schüler fand in Zürich zwar Zuflucht, aufgrund des Arbeitsverbots sowie ihres eigenwilligen Umgangs mit Behörden gestalteten sich die nächsten Jahre jedoch schwierig. Sie fand aber Gönner wie den Seidenfabrikanten Silvain Guggen-heim oder die Kaufhausbesitzer Hugo May und Kurt Ittmann, die sie finanziell und moralisch mit dem Erwerb ihrer Bilder und Texte unterstützten.
Mit dem Motiv der biblischen Königin Esther (Hadassah) hat sich Else Lasker-Schüler sowohl in ein-em Gedicht als auch in Zeichnungen auseinander-gesetzt. Rechts im Bild schreitet sie, in einem roten Kleid, mit Kurzhaarschnitt, reichem Schmuck und einer Art Leopardenfell-Stola selbstbewusst vor «ihren» drei Männern (wohl König Ahasver, Grosswesir Haman und ihr Onkel Mordechai), die aneinandergereiht mehr als leblose Puppen erscheinen, denn als mächtige Staatsmänner. Das Blatt entstand vermutlich als Gabe der Exilantin, die sich als Dichterin und Illustratorin gleichermassen verstand, an ihre Zürcher Unterstützer. Es weist die für Lasker-Schülers Zeichnungen typische Reihung der Figuren und leuchtende Farbigkeit auf.
Die Konsequenz, mit der sich Else Lasker-Schülers Leben und Fiktionales verwirbeln, betrifft auch ihre Zeichnungen. Ihre Bildwelt ist die ihres Lebens und ihrer Texte, und ihre Ich-Figurationen (…). Die grosse Nähe ihrer Zeichnungen zur Schrift und dem Schreiben und das für Else Lasker-Schüler typische Verfahren, zunächst Umrisszeichnungen zu fertigen und diese dann, zumeist mit Buntstiften und Kreiden, zu kolorieren, zeigen deren Entwicklung aus der einfarbigen Briefzeichnung und der Buchillustration
Ricarda Dick, «‹Eine tiefinnerliche Künstlerpersönlichkeit›. Else Lasker-Schüler als Zeichnerin», in: Librarium, 1/2009, S. 52
Hans Christian Andersen
Das hässliche Entlein. Ein Märchen, Übersetzung von Ursula Isler-Hungerbühler, Zeichnungen von Helen Kasser, Zürich: Artemis Verlag, 1959
Rudyard Kipling
Die Katze, die für sich allein ging. Eine Geschichte, Übersetzung von Hans Rothe, Hans, Illustrationen von Helen Kasser, Zürich: Artemis Verlag, 1961
Helen Kasser
Tiere in Feld und Wald. Ein Bilderbuch für kleine Kinder, Zürich: Artemis Velrag 1962
Helen Kasser
Quak, der Frosch, Winterthur: Comenius Verlag, 1970
Helen Kasser erhielt von 1929 bis 1933 ihre Ausbildung an der Kunstgewerbeschule in Zürich, Ernst Gubler, Otto Meyer-Amden, Otto Morach und Walter Roshardt. Es folgten Studienaufenthalte in Paris und Südfrankreich. 1932 heiratete sie den Fotografen und Redaktor Hans Kasser. Sie war zunächst als Gebrauchsgrafikerin tätig und arbeitete später als Malerin und Illustratorin, daneben war sie Mitbetreuerin der Galerie «Vogtei» in Herrliberg; Unter anderem wurden ihre Werke seit 1960 in Gruppenausstellungen der Künstlerinnenvereinigung «Graphica» Zürich präsentiert, wo Kasser neben Künstlerinnen wie Hanny Fries oder Nell Gattiker Mitglied war.
In der Illustration von Hans Christian Andersens Märchen Das hässliche Entlein (1959) nahm die an der Kunstgewerbeschule in Zürich ausgebildete Helen Kasser (1913–2000) unter anderem Gestaltungselemente aus dem japanischen Farbholzschnitt auf: Die charakteristische Flächigkeit und Farbigkeit mit zart verlaufenden Farbverläufen der japanischen Vorbilder kontrastierte sie mit einer knallroten Sonne. In diesem und auch in späteren Bilderbüchern wie Die Katze, die für sich allein ging (1961), Tiere in Feld und Wald (1962) und Quak der Frosch (1970) experimentierte und perfektionierte die Künstlerin die Arbeit mit Monotypien.
Helen Kassers Oel-Monotypien ist jene schöne Verinnerlichung der geborenen «Märchenerzählerin» eigen, der Katzen, Hühner, Pferde und Fledermäuse samt und sonders Traumfiguren sind -, einer Begabung, die sie zur überzeugenden Kipling-Illustratorin werden liess...
abg, «Die Frau in der Kunst», in: Schweizer Frauenblatt, 14.4.1961
Dem Kunstgewerbe wurde seit jeher ein geringer künstlerischer Anspruch zugebilligt. Künstlerinnen wurden häufig in diese Sparte gedrängt, die gegenüber den «Schönen Künsten» abgewertet wurde. Selbst in der Plakatkunst, die in der angewandten Kunst als die Königsdisziplin der visuellen Kommunikation gilt, wurden Künstlerinnen marginalisiert.
Dora Hauth (1874–1954) und Hanni Bay (1885–1978) engagierten sich aber dezidiert in Plakaten und auf Werbekarten für die erste Abstimmung über das Frauenstimmrecht 1920 im Kanton Zürich, das mit 80% Neinstimmen wuchtig verworfen wurde. Hanni Bays Bildmotiv der Mutter mit Kind an der Wahlurne entsprach ihren eigenen Lebensumständen, war doch die Künstlerin damals bereits Mutter von drei kleinen Töchtern, die sie nach ihrer Scheidung 1925 unter anderem mit Illustrationen in Büchern, Zeitschriften und Tageszeitungen über Wasser halten musste.
Gertrud Escher
Porträt von Hermann Escher, um 1927, ZBZ
Den Künstlerinnen wurde in diskriminierender Weise lange Zeit nur das sogenannte «kleine Format» zugestanden. Darunter fielen auch die Exlibris – künstlerisch gestaltete Kleingrafiken, die als Besitzvermerk vorne ins Buch eingeklebt wurden.
Die Künstlerin Helen Dahm (1878–1868) gestaltete zwischen 1911 und 1913 das Exlibris für ihre langjährige Lebensgefährtin Else Strantz (1866–1947). Die gebürtige Berlinerin war Kunsthistorikerin und Archäologin, als Malerin tätig und fertigte Holz-schnitte. 1913 bis 1919 lebte das Paar in Zürich und anschliessend bis zur Trennung 1932 in Oetwil am See. Dahm wird vor allem für ihre erdigen Bilder mit kräftigem Kolorit und pastosem Farbauftrag geschätzt. 1954 wurde ihr als erster Frau der Preis für bildende Kunst der Stadt Zürich zugesprochen.
Helen Dahm
Eigenexlibris, 1905, Radierung, ZBZ
Gertrud Escher entwarf für die 1917 eröffnete Zentralbibliothek Zürich das Exlibris. Auftraggeber war ihr Onkel Hermann Escher, erster Direktor der neuen Bibliothek. Das Exlibris wurde in die geschenkten Bücher eingeklebt.
Gertrud Escher
Exlibris für die Zentralbibliothek Zürich – Öffentliche Stiftung. Geschenk, 1917, ZBZ
Postkarten entsprachen um 1900 unseren heutigen Sozialen Medien. Die Post wurde damals dreimal täglich verteilt, sodass die Karten ihren Zielort in Kürze erreichten. Mit anderen Worten konnte man sich mit einer am Morgen eingeworfenen Postkarte für den Nachmittag verabreden. Die Jahre zwischen 1895 und dem Ersten Weltkrieg werden als die goldenen Jahre der Postkarte bezeichnet. 1913 wurden in der Schweiz 112,5 Millionen Karten verschickt.
Hedwig Dolder-Spoerri
Postkarte für Pro Juventute, um 1932, ZBZ
Hanni Bay verwendete Postkarten als verkleinerte Werbemittel ihrer Plakate, im vorliegenden Fall für das kantonale Frauenstimmrecht 1920 in Zürich. Als alleinerziehende Mutter war sie zudem auf den Verdienst in der Buchillustration angewiesen. Unter anderem entwarf sie Bilder für die Hefte des Schweizerischen Jugendschriftenwerks SJW, die 1931 gegründet wurde und sich mit pädagogisch wertvollen Geschichten gegen die in ihren Augen grassierende «Schundliteratur» wandte.
Hanni Bay, Illustration zum SJW-Heft Zwischen zwei Welten, 1940, SJW Nr. 85, ZBZ (nicht in der Ausstellung)
Annemie Fontana (1925–2002), Rosina Kuhn (*1940), Marguerite Hersberger (*1943) und Rita Ernst (*1956) gehören zu jenen Schweizer Künstlerinnen ab dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, die von ihrem Beruf leben können. Rosina Kuhn malt Porträts, deren suggestive Wirkung auf den intensiven Farben und kräftigen Pinselstrichen in unbestimmt belassenem Raum beruht. Die anderen drei Künstlerinnen wählen eine ungegenständliche Bildsprache. Die Kunstwerke von Annemie Fontana übersetzen pflanzliches Wachstum in eine abstrahierte Kunstsprache. Sie erproben im Bereich der Grafik den Effekt unterschiedlicher Farben im Zusammenspiel mit geometrischen Formen. Marguerite Hersberger setzt sich in reduzierter Formensprache mit Fragen von Licht und Raum auseinander. Dies führt sie seit den 1980er-Jahren zu begehbaren Rauminstallationen, die sie mit farbintensiven Kunstwerken und Licht versieht. Rita Ernst löst die mathematische Systematik der Konkreten Kunst in intuitiven Konstellationen von geometrischen Formen auf: Flächen und Linien, Vertikale, Horizontale, Diagonale und Kreisformen ergeben ein spannungsreiches Farbenspiel.
Im Vorfeld der Ausstellung gaben die drei noch lebenden Künstlerinnen über ihren Werdegang Auskunft. Um ihre künstlerischen Ambitionen realisieren zu können, blieben Fontana, Hersberger und Ernst unverheiratet und kinderlos. Kuhn ist alleinerziehende Mutter eines Sohnes und musste zur Finanzierung ihrer Lebensführung zeitweise an der heutigen Zürcher Hochschule der Künste unterrichten. Das Ausbrechen aus dem gesellschaftlich verankerten Rollenbild der Ehefrau ermöglichte eine grosse Freiheit: einerseits wirtschaftlicher Art – erst seit 1988 dürfen verheiratete Frauen ohne die Unterschrift des Ehegatten ein eigenes Bankkonto eröffnen – andererseits in der Entfaltung des eigenen künstlerischen Anspruchs. Viele talentierte Kolleginnen konnten ihre Begabung nicht mit den Aufgaben des Familienlebens vereinbaren.
Die Collage «Girls» ist dem Frühwerk von Rosina Kuhn zuzurechnen. Sie entstand nach ihrem Auslandaufenthalt 1966–1967 in Mexiko und New York.
Rosina Kuhn, Girls, 1968, ZBZ
Kuhn liess sich von den Collagen der Pop Art-Künstler anregen und kombinierte Abbildungen aus Illustrierten und Zeitungen mit aquarellierten Figuren zu einem Zeitbild modisch gekleideter Frauen mit eleganten Frisuren. Das kleinformatige Bild strahlt eine selbstbewusste Frische und unbekümmerte Frechheit aus. Die fragmentierte Räumlichkeit spiegelt die Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit der revoltierenden Gegenwart.
Da ich in eine Künstlerfamilie hineingeboren wurde, realisierte ich schnell, dass dieses Leben seine Tücken hat. Aber unter der Ägide meiner unglaublichen Mutter Lissy Funk, die nicht nur den Haushalt und Arbeiterinnen in ihrem Atelier organisierte, am Mittagstisch Pullover für die Familie strickte, Schule gab, um die Arbeiterinnen zu bezahlen und nächtelang durcharbeitete, kam das Gefühl angesichts ihrer so überwältigenden Agenda gar nicht auf, dass Frauen im Hintergrund wären. Einige ihrer Arbeiten hängen jetzt in Museen in New York, im Art Institute of Chicago und jetzt auch in der Schweiz. Sie war das Schwungrad und die Königin in unserem Familienkreise.
Nur an der Kunstgewerbeschule kam ich aus dem Staunen nicht heraus.
Man hörte dort, dass Frauen keine Kunstgeschichte machen.
Ich dachte einfach: die spinnen.
Als ich dann weg von zu Hause im eigenen Atelier arbeitete, wurde mir jedoch die Realität bewusst, dass man als Frau nicht ernstgenommen wird.
Das habe ich dann versucht zu ändern, und kämpfe weiter.
Wir haben in unserer Stadt ein Museum mit mindestens vier Kuratorinnen und einer Direktorin:
Mal schauen, was da herauskommt an grossen, interessanten Ausstellungen von ernstzunehmenden Künstlerinnen.
Rosina Kuhn
Zum 130. Geburtstag von Ludwig Mies van der Rohe (1886–1969) rezipierte Rita Ernst 2016 das Œuvre des Architekten in ihrer künstlerischen Bildsprache. Der Werktitel bezieht sich auf die Villa des Industriellen Hermann Lange in Krefeld, die 1927–1928 nach Entwürfen von Mies erbaut worden war.
Rita Ernst
Haus Lange, 2016, Serigrafie, aus der Edition Imagination Mies, ZBZ
Mit ihrem Hang zu Ordnung, Struktur und Rhythmus wurzelt die Kunst von Rita Ernst in der Architektur. Nach der Auseinandersetzung mit den Grundrissen arabisch-normannischer Sakralarchitektur auf Sizilien widmet sie sich den Strukturen der Bauten von Mies als Inspirationsquellen für ihre freie Malerei und Grafik.
Die Serigrafie lebt von schwarzen Flächen unterschiedlicher Grösse, welche den konkreten Grundriss eines Gebäudes in künstlerischer Autonomie zu einem Konzentrat räumlicher Grundstruktur weiterentwickelt. Fern einer konkreten Funktionalität scheinen die weissen Linien und Streifen die Wände und Gänge zwischen den Räumen zu visualisieren. Der Reiz der Serigrafie gründet in der abwechslungsreichen Bildstruktur, in der Rita Ernst die asymmetrischen Grundrisse des Architekten bildlich umsetzt.
Als 1971 endlich das Frauenwahlrecht in der Schweiz eingeführt wurde, war ich gerade 15 Jahre alt.
Ich realisierte, wie wichtig die Selbstbestimmung ist. Zu dieser Zeit wollte ich schon Künstlerin werden. Lebendigkeit und Freiheit schaffen Autonomie.
Die Gleichberechtigung? Sie geht einher mit der gesellschaftlichen und politischen Situation.
Die Ausstellungspraktiken und die Sichtbarkeit der Frauen als Künstlerinnen sind ein Spiegel der Zeit. Da stehen wir immer noch näher am Anfang als am Ziel.
Rita Ernst
Marguerite Hersberger
Komposition zu Skulpturen Nr. 16, 1967, Tuschfeder, ZBZ
Nach ihrer Ausbildung an der Kunstgewerbeschule in Basel lebte Marguerite Hersberger 1967–1970 in Paris, wo sie unter anderem im Studio des Bildhauers François Stahly arbeitete.
Die damals entstandenen Zeichnungen der Serie der «Kompositionen zu Skulpturen» sind mit ihrem gestischen Schwung und der rotierenden Anordnung der Flächen stilistisch der Ecole de Paris verwandt. Mit ihrer Dynamik evozieren sie den Eindruck kinetischer Skulpturen im Raum..
Diese frühen Arbeiten lassen bereits spätere Charakteristiken im Œuvre der Künstlerin erkennen: den Hell-Dunkel-Kontrast, die Überlagerungen von Flächen und deren Transparenz mit Blick in die dunkle Bildtiefe.
Natürlich war es oft nicht einfach als Künstlerin mit einer eigenständigen Position wahrgenommen und anerkannt zu werden. Gleichwohl konnte ich vom Engagement vieler Vorkämpferinnen – wie Sophie Taeuber-Arp, Meret Oppenheim, Helen Dahm – für Frauen in der Kunstwelt profitieren und so mein umfangreiches Werk realisieren. Doch es bleiben immer noch grosse Herausforderungen bis Frauen in Sammlungen und Museen gleichberechtigt vertreten sind, und in der Gegenwartskunst die Preisgestaltung bei Werken von Künstlerinnen und Künstlern äquivalent ist.
Marguerite Hersberger
Im Rahmen der Ausstellung In Frauenhand | In Her Hand (Schatzkammer, Themenraum Turicensia, 5.9.–6.12.2025) sind im Lesesaal der Zentralbibliothek Zürich drei künstlerische Interventionen zu sehen. Künstlerinnen aus drei Generationen beziehen in unterschiedlichen Medien Position zu gesellschaftlichen Themen unserer Zeit.
Vogel
Wespe, Gockhausen
Three Mile Island, USA
Wanze, Aargau
Marienkäfer Variationen, Gockhausen
Bildfolge von Cornelia Hesse-Honegger, von der Künstlerin ausgewählt und zusammengestellt aus den Jahren 1962–2016, Zürich, 2025. In ein Video umgewandelt von Peter Behringer, ZBZ, 2025, 23 Minuten, 32 Sekunden, Privatbesitz
Cornelia Hesse-Honegger (*1944) bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Kunst. Ihre Eltern waren Warja Lavater, eine bedeutende Book Art-Künstlerin, und Gottfried Honegger, ein wichtiger Exponent der konstruktiv-konkreten Kunst. Nach dem Vorkurs an der Kunstgewerbeschule begann Cornelia Hesse-Honegger ihre Ausbildung als naturwissenschaftliche Zeichnerin am Zoologischen Institut der Universität Zürich. Stipendien an der École des Beaux-Arts in Paris und an renommierten meeresbiologischen Instituten folgten. Bereits ab 1967 befasste sie sich mit Mutationen bei Frucht- und Stubenfliegen, die im Labor erzeugt wurden: «Sie wurden für mich zu Prototypen, zu Visionen einer zukünftigen menschgemachten Naturform.» Sie setzte sich seit den 1980er-Jahren für den Erhalt der Artenvielfalt ein. Seit der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl (1986) dokumentierte die «Wissenskünstlerin» Deformationen von Blattwanzen (Heteroptera) in den vom radioaktiven Fallout betroffenen Gebieten ebenso wie im Umfeld von Atomkraftwerken mit Niedrigstrahlung. Heute gilt es als erwiesen, dass auch niedrige Strahlenwerte zu irreversiblen genetischen Schäden führen.
In den 1990er-Jahren erregte Cornelia Hesse-Honegger mit ihren spektakulären Entwürfen für den Seidenfabrikant Andreas Stutz (Fabric Frontline) in der Modewelt Furore. Sie verhalfen ihr zu einer ökonomischen Absicherung.
Im langsamen Akt des Zeichnens deckt Cornelia Hesse-Honegger Prozesse auf, die sich im Verborgenen vollziehen. Mit ihrer engagierten Arbeit macht sie auf das zerstörerische Potenzial der Radioaktivität aufmerksam. 2015 erhielt sie den Nuclear-Free Future Award in der Kategorie Aufklärung.
In jahrelanger Forschungsarbeit hat die Zürcher Künstlerin Elisabeth Eberle (*1963) ihr persönliches «Archiv» erstellt. Sie ergründet die Zahlenverhältnisse zwischen Künstlerinnen und Künstlern in Ausstellungen, Ankäufen und Pressebeiträgen, welche zu Ungunsten der Frauen ausfallen. Versammelt hat Eberle die Ergebnisse ihrer Recherchen im visuell und inhaltlich gleichermassen beeindruckenden Archiv Frauen* zählen! (2010–2021).
Die mit wissenschaftlicher Präzision zusammengetragenen Informationen hat Eberle in imposanten Wandinstallationen zu Kunst transformiert. Auch in der kompakten Gestalt der beiden bedruckten Duschvorhänge verlieren die von der Künstlerin unermüdlich gesammelten Zeitungsausschnitte, Statistiken, Zitate und Bilder nicht an Ausdruckskraft. Vielmehr entsteht durch das Medium ein neuer Aussagewert. Das intime Objekt des Duschvorhangs, das wir im Alltag sprichwörtlich «in der Hand» haben, wird zur Projektionsfläche für Eberles feministisch-künstlerische Arbeit.
National Gallery, London
Why are there so few female artists in the National Gallery? YouTube Video, 2019
Die Installation besteht aus zwei Ebenen: Himmel und Erde. Dazwischen liegt ein Raum – ein Interregnum. Im historischen Kontext bezieht sich Interregnum oft auf die Zeit zwischen dem Tod eines Herrschenden und der Wahl oder Ernennung eines Nachfolgenden, oder auf eine Zeit ohne Herrscher. Ein Zustand ohne feste Ordnung. Weder ganz gebunden, noch freischwebend. Ein Moment des Dazwischen. Der Stoff der erdbezogenen Arbeiten ist die Außenseite einer Matratze. Sie betont die Schwerkraft – die Verbindung zwischen Körper und Boden, zwischen Atemzug und Erdanziehung. Ein Gefühl wie Asphalt an der Wange. Eine Gravitation, die sich schwer und existenziell anfühlt. Die Matratze erinnert an Orte der Geburt und des Sterbens, an Intimität, Fürsorge, Erschöpfung. Sie speichert Körper. Sie spricht von Care-Arbeit und Verwundbarkeit. Sie ist Mutter Erde. Wunderschön, haltend, aber sie benötigt auch unbedingt etwas zum Aufschauen, Etwas, was dieser Gravitation etwas entgegensetzt.
Der Himmel ist auf zwei Leinwänden gemalt – mit Terpentin und Öl. Er dünnt den Stoff aus, lässt Licht durch und ist auf einen Keilrahmen gespannt. Das Kreuz des Keilrahmens scheint auf der Vorderseite durch und ist auf der Rückseite ganz selbstverständlich. Wolkenartige Formen steigen auf, fliehen, verflüchtigen sich – und bleiben dennoch gebunden. Haben starke Ränder, wollen feste Konturen, aber schweben oder fallen. Der Himmel zieht, bleibt jedoch fern. Keine Erlösung, kein Ziel – nur die Ahnung von etwas, das kommen könnte.
Auf einem Planeten mit Gravitation ist der Himmel etwas Entferntes. Etwas schweben zu lassen, widerspricht dieser Schwerkraft. Es wirkt rebellisch, wird mit Magie, Religion oder Spiel verbunden. Das Alte Stirbt Und Das Neue Kann Nicht Geboren Werden Titel gemäss Ankündigung rezipiert Antonio Gramscis Gefängnishefte. Die Installation resoniert mit Gramscis Diktum, indem sie zwischen Erdung und Schwebezustand oszilliert. Das Neue existiert vielleicht schon als Potential, als kleiner Keim oder Schattenriss, aber es hat noch keinen Körper, keine Sprache.
Alte Ordnungen – Religion, fossiler Kapitalismus, verlieren an Kraft, bleiben aber wirksam. Digitale Energien, neue Ideologien entstehen.
Wir leben in einer Zeit des Dazwischen. Sie ist nicht nur bedrohlich, sie ist auch kreativ. Sie ist offen für Wandel, aber auch für Angst und Chaos. In diesem Raum, wo nichts sicher scheint, kann vielleicht etwas Neues beginnen. (Hanna Koepfle)
Samstag, 6. September, 18-24 Uhr Kurzführungen zur vollen Stunde
Hermann-Escher-Saal, Zentralbibliothek Zürich
Donnerstag, 11. September, 18 Uhr Monica Seidler-Hux, M. A. Künstlerinnen kartografieren. Vom Vergessen und Wiederentdecken in der Kunstgeschichte
Donnerstag, 2. Oktober, 18 Uhr Bigna Guyer, M. A. «It is the women’s era too». Sonja Sekulas Zürcher Jahre
Donnerstag, 6. November, 18 Uhr Dr. Corinne Linda Sotzek Martha Stettler (1870–1945) – zwischen Malerinnenkarriere und Akademieleitung
Lesesaal, Zentralbibliothek Zürich
Donnerstag, 23. Oktober, 18 Uhr Cornelia Hesse-Honegger Untersuchte beobachtete Natur Bildfolge von der Künstlerin ausgewählt und zusammengestellt, 1962–2016, Zürich, 2025
Donnerstag, 13. November, 18 Uhr Elisabeth Eberle Duschvorhang I und II aus dem Archiv Frauen* zählen! 2010–2021, 2022
Donnerstag, 4. Dezember, 18 Uhr Hanna Koepfle Das Alte Ist Nicht Gestorben Und Das Neue Nicht Geboren, 2025
Hermann-Escher-Saal, Zentralbibliothek Zürich
Donnerstag, 20. November, 18 Uhr Die (Un-)Sichtbarkeit von Künstlerinnen – einst und heute
Es diskutieren Meret Arnold (Kunstbulletin) Patricia Bieder (SIK-ISEA, Zürich) und Sandra Gianfreda (Kunsthaus Zürich)
Moderation Daniele Muscionico (Kulturjournalistin)
Samstags, 13 Uhr 27. September 25. Oktober 15. November (in englischer Sprache) 6. Dezember
Anmeldung: t.zbzuerich.ch/infrauenhand
Weitere Führungen auf Anfrage: kommunikation@zb.uzh.ch
Schatzkammer Barbara Dieterich, Jochen Hesse, Anna Lehninger, Alice Robinson-Baker
Themenraum Turicensia Roberto Alliegro, Marco Geissbühler, Jochen Hesse
Wissenschaftliche Mitarbeit Işık Gürgen
Gestaltung Katarina Lang Book Design
Druck Hürzeler AG, Regensdorf
Übersetzung der Publikation (online) Jane Catterall
Digitalisierungszentrum der Zentralbibliothek Zürich
Camilla Birrer, Kerstin Ebenau, Stefanie Ehrler, Cornelia Haas, Lioba Keller, Ruth Pfister, Heidi Stieger
Peter Behringer, Mario Pluchino
Bruno Gerber, René Hurter
Michael Breitenmoser, Lara Janke, Bettina Deggeller
Kunsthaus Zürich Sammlung Johann Caspar Lavater, Zürich Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft (SIK-ISEA), Zürich Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich Private Leihgeber*innen
Cinémathèque Suisse Erika Brawand-Jucker Stiftung Otto Gamma-Stiftung Ernst Göhner Stiftung Dr. Georg und Josi Guggenheim-Stiftung sowie an eine Stiftung, die ungenannt bleiben möchte
Zentralbibliothek Zürich, Digitalisierungszentrum
Die Bildrechte wurden von den Künstlerinnen und von ihren Nachkommen freundlicherweise für diese Publikation zur Verfügung gestellt. Trotz umfangreicher Recherchen konnten nicht alle Rechteinhaber:innen ausgeforscht werden. Inhaber:innen von Bildrechten sind gebeten, sich bei Fragen an die Zentralbibliothek Zürich zu wenden.
Titelbild: Stefanie von Bach-Rabinovitch, Selbstporträt beim Malen, 1930er-Jahre, Aquarell, ZBZ, © Silver Hesse, Zürich